Der Wüppgalgen
„Muss das denn sein, Herr Offizier.“ Ganz ängstlich schaut die Etje Meinen den Feldwebel direkt ins Gesicht.
Eine Menge Leute sind schon heran gelaufen, um das Spektakel aus nächster Nähe zu erspähen. Bald haben ein Händler auf dem Alten Markt und ein Krämer aus der Möhlenstraat Wind davon bekommen. Beginnen mit ihrem Verkauf von „in brouwen Beer“ und die eine oder andere Bretzel will auch gerne verzehrt sein. Volksfestcharakter entsteht.
Neben dem Feldwebel Heubner steht der Stadtwachtmeister Tönjes Backer, schaut eben zu seinen Leuten herüber. „Kasten, alles klar ...?“ Einer seiner Handlanger, der vierschrötige Angesprochene an dem Galgen gelehnt, nickt. Kann also endlich losgehen.
„Bitte, bitte Herr Offizier. War doch nur ein Birnchen, die eine Seite war schon ganz braun angelaufen.“ Der Feldwebel schüttelt seinen Kopf. „Und der Apfel letzten Sonnabend auf dem Neuenmarkt und das halbe Laib Brot gestern bey der Wittwe Rulle?“ Irgendwie muss Feldwebel Heubner darüber lächeln: „Etje, Etje, da musst du itzt durch. Da hilft alles nichts.“ Endlich kommt sein Auftraggeber, Börchert Hinrichs, zurück von der Herrenpforte gelaufen. „Haben den Schlüssel schon ein halbes Jahr nicht mehr brauchen müssen!“ ruft der Stadtdiener etwas außer Atem.
Die Etje zieht eine kleine Schnute: „Uuuh! Das viele Wasser, Herr Offizier, da wollt ihr die arme Etje ganz untertauchen, wollt ihr?“ Heubner lächelt nur verhalten: „Und das ganze dreimal – mindestens, Etje! Sollst es ja nit so schnelle wieder vergessen.“ Die verzieht nun grimmig ihr nicht unschönes Anlitz. „Das Wasser ist immer so nass, Herr Offizier. Und kalt ist's auch. Bin doch letztmalig im Wasser gewesen, als ich meines Bruders Mähre, die Rinste, aus dem Pferdegraben habe herausholen müssen. Bin da gerutschet und ganz drinne gelegen – uuuh, wie kalt war das!“
Der Knecht Hilmer muss lachen: „Etje du Schmutzfink, als ich dich da herausgezogen – die Pferdegraft hätte man danach mit der „Swarten“ wohl, verwechseln können. Hat nur nicht so gestunken!“ Alles herum begehrt auf zum Lachen (Schwarze oder Aasgraft: zwischen der Duhms- und Prinzengraft) Einer der Kerle, wohl der genannte Bruder, ruft noch dazwischen: „Etje du Ferkel, dass ist ja schon über fünf Jahre her – da lebte unser Oheim noch. So lange bist du nicht mehr baden gewesen!?“ Die inzwischen in den Gitterkasten gesperrte Etje versucht, ihm ins Gesicht zu spucken. „Davon habe ich genug und den Mannsbildern reichts, wenn wir im Gesicht und drunten sauber sind ...“, schaut keck zur Seite: „Nicht wahr – Herr Offizier?“
„Jetzt itzt's aber genug!“ Ruft laut der Feldwebel, um sich blickend. Das letzte geht zum Glück im Schreien der Leute unter. Seine Eheliebste Anna, vom Wall bei der Herrenpforte schauend, hätte das Gekreische auch nicht hören können. Auch haben sich neugierige Leute auf eben dem Stadtwall eingefunden, stehen mutig zwischen den Linden auf einem eigentlich verbotenen Terrain.
Die Handlanger des Wachtmeisters, zu sechse am Galgen, beginnen ihr Werk. Zwei der stärkeren Burschen, Karsten und der wanstige Bolko, betätigten die Kurbel. Langsam hebt sich der Gitterkasten mit der nun laut aufheulenden Etje empor. Dann wird der Galgen von den anderen Gesellen über den Stadtgraben geschwenkt. „Das ihr uns de Etje aber ganz sauber werden lasset. Jaaa?“ ruft der alte Pferdehändler Jan. Wieder ist das Gelächter groß. Tönjes Backer schaut hinterrücks zu seinem Auftraggeber. Der Stadt- und Ratsdiener Hinrichs ist mit zwei Herren des wohllöblichen Magistrats im Gespräch. Endlich sieht er herüber und nickt ihm zu. Da gibt der Wachtmeister sein Zeichen und – die Welle des Galgen wird aus der Verankerung entlassen – der Gitterkasten fällt herunter.
Laut klatschend schlägt der Kasten mit der kreischenden Etje auf die Wasseroberfläche und versinkt schnell – aber nur zur Hälfte.
„Hoch mit ihm“, ruft Tönjes Backer und kräftige Männerhände drehen wieder an der Winde. Schon ist der Kasten wieder emporgezogen. In ihm ein kleinlaut wimmerndes Häuflein Elend. Der Stadtwachtmeister schaut wieder hinterrücks. Börchert Hinrichs ist zufrieden. Hoffentlich ist das der Etje eine Lehre. Ein eher unzufriedenes Raunen geht durch die Reihen der Zuschauer. Man hat ein größeres Spektakel erwartet.
So kann der Galgen wieder zurückschwenkt werden. Herabgelassen und geöffnet kommt ein zerzaustes und patsch-nasses Etwas langsam aus dem Gitterkasten herausgekrochen.
Die beiden Schwestern der Etje, Frauen in achtbaren Verhältnissen lebend, schälen sich aus den umherstehenden Leuten. Kommen heran, heben ihre Schwester auf und wickeln sie in dunkles Tuch, nehmen sie in ihre Mitte und verlassen die Stätte. Langsam beginnt sich die bis dahin neugierige Menge wieder aufzulösen. Die aufgeworfene Erde an der blanken Graft und die in Mitleidenschaft gezogene Grasnarbe an der Böschung des Stadtwalls ist schon bald wieder ganz verlassen. Die niedere städtische Gerichtsbarkeit hat ihr Amt vollzogen. Der Gerechtigkeit ist wieder einmal Genüge getan.
So etwa wie wir diese fiktive Geschichte erzählen - die angegebenen Personen wie Stadtdiener, Wachtmeister und Feldwebel mit ihren Namen gab es wirklich – könnte es sich zugetragen haben, in der „guten alten Zeit“ – im 18. Jahrhundert.
Schon seit 1568 sind Stadtdiener in Jever nachweisbar. Beauftragt vom jeweiligen Magistrat waren sie vielseitig tätig. So oblag ihnen neben der Beaufsichtigung von städtischen Verordnungen, wie uns Hellmut Rogowski in seiner verdienstvollen Dissertation über die „Verfassung und Verwaltung der Herrschaft und Stadt Jever“ erläutert, auch die Exekutionsbefugnis, sämtliche zu erhebende öffentliche Gelder wie Steuern oder landesherrliche Kontributionen einzuziehen. Bei Hausdurchsuchungen und Pfändungen konnte er auf des Stadtwachtmeisters Hilfe zählen. Oder er nahm einen Soldaten der landesherrlichen Garnison zur Unterstützung mit. So gelangten die gepfändeten Gegenstände ins Rathaus, wo er sie selbst versteigerte. Überstieg der Wert der gepfändeten Gegenstände jedoch die 30 Reichstaler, dann war der landesherrlich bestallte Ausmiener dafür zuständig; Bei „brennender Kerze“ sie auf dem Rathaus zu verganten. Weiterhin musste der Stadtdiener auch vom Stadtgericht verhängte Strafen vollstrecken.
Als Fräulein Maria 1536 die Stadtrechte verlieh, wurde den Ratsherren und dem Bürgermeister nach Artikel 2 zum Stadtrecht die niedere Gerichtsbarkeit zuerkannt. In den Stadtgerichtsprotokollen, welche seit 1583 erhalten sind, wurden die Urteile vom Bürgermeister und den Ratsherren gemeinsam ausgesprochen. Nach Artikel 5 konnte der Landrichter jederzeit beratend hinzugezogen werden.
Gefangene sperrte der Stadtdiener in einen Raum über dem St. Annentor oder in den „stüren Kerl“, welcher auch als „Bürgergehorsam“ bezeichnet wurde. Ein heute im Stadtgebiet von Osnabrück stehender Wehrturm, früher eingebunden in den die Stadt umgebenden Festungsgürtel, trägt ebenfalls den Namen „Bürgergehorsam“. Darin wurden renitente Einwohner für eine bestimmte Zeit festgesetzt.
Besonders unangenehm waren die sogenannten „Spottstrafen“. In den Protokollen liest man des Öfteren von der „hohe peinlichen halßstrafe“. Die bekannteste öffentliche Strafe wurde am Aufgang zum Kirchhof vollzogen. Ein eisernes Halseisen war an dem sogenannten „Justizpfahl“ befestigt und ein jeder ohne Ansehen der Person konnte dort eingeschlossen werden. Zumeist geschehen an Markttagen war dieses eine peinliche Angelegenheit für die Delinquenten. Nach Braunsdorf wurde diese „Justiz“ 1766 vor das Rathaus versetzt. Rumorende Jugendliche kamen durch den Stadtdiener in den sogenannten „Finken-Bauer“. Hier sollte er sie dann mit Ruthen züchtigen.
Eine auch „hochnothpeinliche“ Angelegenheit war aber wohl das Einschliessen in den Wüppgalgen. Er wurde anno 1603 an der Blankgraft aufgerichtet und stand mindestens noch bis Mitte des 18. Jahrhunderts zur Verfügung. In wieweit der Käfig ins Wasser herab gelassen wurde und wie lange er dort mit dem Delinquenten verbleiben musste, hing von der Schwere des Vergehens und dem angeordneten Strafmaß ab.
Ausschnitt aus dem Plan von Reuter, 1742. |
Zählten die Scharfrichter und ihre Familien zu den „unehrlichen“ Bürgern (siehe unseren Exkurs zum Rakkergang) in der Stadt, gehörte der Stadtdiener zu den „ehrlichern“ Leuten. Er erhielt eine ansehnliche Besoldung, Schuhgeld und freie Wohnung. Seine Strafen machten die Delinquenten nicht „ehrlos“ sondern setzten sie nur dem Spott ihrer Mitbürger aus.
Wieder einmal wollen wir den ältesten Plan unserer Stadt bemühen, von Johann Daniel Reuter 1742 gezeichnet und koloriert. Er hat als Einziger in den vielen nach ihm entstandenen Plänen den Wüppgalgen bildlich erfasst.
Auf dem nebenstehenden Ausschnitt vom Alten Markt westlich vom Schütting (heute die LzO) erkennen wir den erhöhten, dreieckigen Richtplatz des Prangers, welcher auch als Kaak bezeichnet wurde (daher der Name Kaakstraße), samt dem Galgen zur Vollstreckung von „Lebensstrafen“.
Weiter westlich, am Stadtgraben (Blankgraft) steht der Wüppgalgen mit seinem Gitterkasten. Dort, in Nähe der Herrenpforte (oben im Ausschnitt, mit der östlich vorgelagerten Zugbrücke als überkreuztes Feld dargestellt), konnte von allen Seiten dieser wohl eindrücklichsten Bestrafung zugeschaut werden. Eigentlich war die Kompetenz des Stadtgerichts auf das Areal innerhalb der Umwallung beschränkt – für die Prozedur mit dem Wüppgalgen war jedoch der steil ansteigende Stadtwall an der Innenseite des Grabens denkbar ungeeignet.
Auch unser Historiograph aus Waddewarden, der Magister Braunsdorf, hat den Wüppgalgen in seinen „Gesammelte(n) Nachrichten zur geographischen Beschreibung der Herrschaft Jever“ berücksichtigt. Sein Originalmanuskript befindet sich in der Bibliothek des Marien-Gymnasiums. Im Jahre 1896 hat dessen Bibliothekar, der Oberlehrer Riemann es zum Druck befördert: „Ungefähr am Ende der blanken Graft, nahe am Ufer ist der sogenannte Wüppgalgen, mit welchen ehedessen Personen, die kleine Verbrechen begannen, abgestraft wurden. Es ist ein viereckiger, hölzerner Gitterkasten, so groß, dass eine Person darin stehen konnte, in welchem der Übeltäter eingeschlossen und dann mit diesem Kasten, der mit einer Kette an einer Winde befestigt war, plötzlich zu mehrerenmalen, nach Maßgabe des Verbrechens, ins Wasser gelassen und heraufgezogen wurde. Weibliche Personen, die einer ausschweifenden Lebensweise überführt wurden, traf diese Strafe am meisten, die noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts statt fand, seit der Zeit aber aufgehoben worden ist.“
Im Herbst 1996 wurde viel Geld in die öffentliche Hand genommen, um die Blankgraft aufzureinigen und die Uferbefestigung mit Bongossi abzusichern. Dabei wurde auch der „Königsdamm“ aufgegraben, um die zwei lange Zeit getrennten Graftenteile wieder zu vereinen. Entgegen der Meinung einiger Heimatfreunde, die neue anstelle des Damms überspannene Brücke würde auch nach dem ersten darübergehenden Einwohner einen Namen erhalten, hat sich leider nicht eingestellt.
Ausschnitt aus dem Manuskript von Braunsdorf, um 1800, |
Auf Initiative des damaligen Stadtdirektors sollte nun der frühere Wüppgalgen wieder als Touristenattaktion neu erstehen. Allerdings nicht an der alten Stelle neben der vielbefahrenden Bundesstraße am Von-Thünen-Ufer, sondern an der gegenüberliegenden Seite der Graft neben dem Zugang zur Brücke, von der Fräulein-Marien-Straße aus.
Am 6. August 1997 konnten Mitarbeiter des städtischen Bauhofs den (nun eisernen) Gitterkasten anbringen. Heimatfreund Ingo Hashagen soll anfänglich versprochen haben als erster in den Kasten zu steigen, ist uns dieser „mutigen“ Tat aber bis zum heutigen Tag schuldig geblieben.
Eine andere und weit grausamere Gerichtsbarkeit fällte ihr Urteil auch mit dem Kontakt zum Wasser.
Ganz in der Nähe zum Wüppgalgen wurde sie auf der Burg innerhalb des Schlosswalles vollzogen. Bis zum Jahre 1794 war unser Schloss, gleich einem Wasserschloss, vollständig von einem Wassergraben umgeben. Nicht zu verwechseln mit dem Schlossgraben, der heute noch den Schlossgarten umfasst. Die „Töverske“ Graft wurde dieser innere Graben genannt. Im Volksmund wohl auch die Zaubergraft geheißen. Hier wurde schon im 16. Jahrhundert „ganz unkompliziert“ die sogenannte Hexenprobe durchgeführt.
Oft durch üble Nachrede beschuldigte Frauen waren, an Händen und Füßen gefesselt, in den südlichen Abschnitt dieses Gewässers geworfen worden. Schwammen sie an der Oberfläche, so war ihr Zauber mächtig und sie waren mit dem Teufel im Bunde – also schuldig. Der Scheiterhaufen war ihnen gewiss. Waren die Frauen jedoch untergegangen und ertranken – so waren diese armen Seelen unschuldig und eine Grablege auf dem geweihten Kirchhof war ihnen sicher.
Quellen.
- Hellmut Rogowski, Verfassung und Verwaltung der Herrschaft und Stadt Jever, Stalling, Oldenburg 1967
- M. B. Martens / Magister Braunsdorf, Gesammelte Nachrichten zur geographischen Beschreibung der Herrschaft Jever. Hrg. F. W. Riemann, Mettker, Jever, 1896. Zu Wüppgalgen siehe dort Seite 38.
- M. B. Martens / Magister Braunsdorf, Gesammelte Nachrichten zur geographischen Beschreibung der Herrschaft Jever. Neu-Edition auf Schripnest 2014. Zu Wüppgalgen siehe dort Seite 32.
- M. B. Martens / Magister Braunsdorf, Gesammelte Nachrichten zur geographischen Beschreibung der Herrschaft Jever. Manuskript, um 1800, Bibliothek des Mariengymnasiums; Nr. XICc49, Repro: V. Bleck
- Johann Daniel Reuter. Plan der Stadt von 1742. Schlossmuseum Jever, Repro: V. Bleck.
Wilke Krüger, Dezember 2018.