Der Rakkergang

Eine Erinnerung

Vielen Einwohnern unserer schönen Stadt ist dieser alte Name noch geläufig. Die Eltern und Großeltern sprachen von ihm. Gelegen am Rande der Altstadt verlief der Rakkergang malerisch zwischen alten Häusern – sein Name besaß etwas Geheimnisvolles.

Haben die Kiekebushörn nur zwei beisammenstehende Häuser ausgemacht, so wurde der Rakkergang durch wenig mehr Häuser gebildet. Wieder handelte es sich um eine kurze Verbindung zwischen zwei Straßen, wiederum der Am Wall verlaufenden und dem Hopfenzaun. Heute ist diese Verbindung nicht mehr erkennbar. Im Hopfenzaun, mitten in seiner nördlichen Häuserzeile zwischen der Nr. 10 und der Nr. 12 ging der gepflasterte Gang auf einer ungefähren Breite von eineinhalb bis zwei Metern hindurch. Nach ungefähr fünfunddreißig Metern war man auf der anderen Seite, Am Wall, angelangt.

Peters-Plan

Der Rakkergang im Plan von H.C. Peters, 1824.
Eingefärbt der Verlauf des Rakkerganges,
zusätzlich ergänzt mit heutigen Hausnummern

 
Der Hopfenzaun um 1920. Gleich nach dem ersten, links stehenden Haus auf dem Bild, geht der Rakkergang zwischen die Häuser nach dem Wall zu. Der kleine Junge in der Bildmitte schaut in Richtung des Fotografen. Über ihm auf dem Schild ist zu lesen: Wilh. Lindeberg – en gros Schlachterei – Fernspr. 31.

G. Reents Oldbg

Der Rackergang vom Wall gesehen. Rechts die Wohnungen hinter dem Haus Hopfenzaun 12 (hintenstehend). Unweigerlich kann der Gedanke an ein "Millieu" aufkommen.Sicherlich fanden hier sozial schwächer gestellte Einwohner günstigen Wohnraum
Aufnahme Gustav Reents, Oldenburg.

Der gepflasterte Durchgang in Richtung Hopfenzaun. Aufnahme Karl Fissen.

Anhand des Plans der Stadt und Vorstadt Jever  von H. C. Peters aus dem Jahre 1824 (Schlossbibliothek) interessiert uns die nähere Umgebung. Der Festungsgraben, hier noch durchläufig, wurde erst bei der Schaffung der Anlagen gedämmt. Nachher unterschied man in Duhms- und Pferdegraft. Erstere, benannt nach Tönnies Duhm, welcher am Pferdegraben (später das Elisabethufer) eine Wirtschaft pachtete, letztere benannt nach der Pferdeschwemme, wofür das Ufer abgeschrägt war. In späterer Zeit genutzt zum Waschen der Brauereipferde.

Hinter dem Festungsgraben erhob sich schützend zur Altstadt mächtig der sieben bis acht Meter hohe Stadtwall, auf dem aufgereiht Lindenbäume standen - sogar auf dem Plan von 1824 eingezeichnet. Mehrere Treppen ermöglichten den Bürgern das Hinaufkommen auf die flache Dossierung. In mehreren Rotten unterteilt, waren unsere Vorfahren in Kompanien vereinigt und zum Wachtdienst auf dem Wall und an den Stadttoren verpflichtet.

In ein ungläubiges Kopfschütteln wird der eine oder andere verfallen beim Anblick der "Fräulein-Marien-Straße" an vermeintlich verkehrter Stelle. Dem war aber nicht so. Ursprünglich begann dieser Weg wirklich beim St. Annentor und führte über das Wangertor weiter zu der noch heute so bezeichneten Straße. Als Reminizenz an den beinahe dreihundert Jahre bestandenen Wall können wir den heutigen Straßennamen "Am Wall" werten.

Nach diesem Abschweifen in die Umgebung des Rakkerganges wollen wir uns die Häuser ein wenig anschauen, welche den Weg eingrenzten. Bis zum Jahre 1914 gab es eine durch die gesamte Stadt gehende Zählung der Hausnummern. Von der Nummer 1 = das Sophienstift bis zur Nummer 854 = Kaufmann Habben an der Schlachte. Für den Hopfenzaun gab es die Nummern 139 bis 164, mit Unterbrechung der Am Wall stehenden Häuser. Für diesen Exkurs beziehe ich mich auf die heutigen Hausnummern.

Die westliche Seite unseres Rakkergangs wurde nur von einem Anwesen eingenommen. So bestand das Haus Nr. 12 aus dem giebelständigen Vorderhaus am Hopfenzaun und den dahinter aneinandergefügten um 1816 fünf Kitzen, 1839 jetzt moderater mit sieben Wohnungen bezeichnet. Im Jahre 1877 gehörten der Witwe des Schullehrers Cornelius Evers Harms neben dem Vorderhaus fünf Wohnungen im Rakkergang. Ihre Bewohner waren Marie Siebels und die Witwen Staschen, Schleemilch, Neumann und Bückmann. Bei letzterer wohnte zudem ihr Sohn, der Rohrstuhlflechter Karl Bückmann. Am 25. März anoncierte er im Jeverschen Wochenblatt seine Rückkehr nach Lehrjahren in Hannover. 1893 war aus dem Wochenblatt zu erfahren, die Witwe Brinkmann und der Zimmermann O. D. Wolf haben gemeinsam das Anwesen mit den sieben Wohnungen (Mietertrag jährlich 385 Mark) für 2475 Mark erworben. Solche intimen Details wären heutzutage in unserer Tageszeitung undenkbar.

Der hinter der letzten Wohnung belegene, erst später angelegte, wenige Gartengrund schloß mit einer Hecke zum Wall ab. Das Haus Hopfenzaun 10 bildete die Ostseite vom Rakkergang, war äußerlich schlicht gehalten. Allein sein angedeuteter  Staffelgiebel endete oben dreistufig. Dieses Haus besaß nicht die Tiefe wie die Nummer 12, obwohl ein Hinterhaus angefügt war. Eine Begrenzungsmauer, beginnend hinter einen Anbau, schirmte den dahinterliegenden Garten vom Rakkergang ab. Diese Mauer  endete an der Rückseite des Hauses am Wall 6, welches von altersher die Büttelei genannt wurde. In unserem Stadtarchiv, welches 1972 im Oldenburger Landesarchiv Aufnahme fand, haben wir eine genau auf dieses Anwesen bezogene Urkunde aus dem Jahre 1747. Darin belehnt die verwitwete Fürstin von Anhalt-Zerbst, als Herrin von Jever, den Nachrichter Andreas Christoph Hübner mit diesem Haus, einer Wohnung am Ziegelwerk sowie fast freier Landbenutzung.

In seiner Dissertation über die "Verfassung und Verwaltung der Herrschaft und Stadt Jever", bei Stalling 1967 im Druck erschienen, führt Hellmut Rogowski an, dass  mit der Tätigkeit des Nachrichters von altersher auch das Amt des Scharfrichters verbunden war. Wenn zu Anfang des 17. Jahrhunderts der Scharfrichter Oldenburgs noch für Jever zuständig war, als Vollstrecker von Lebensstrafen, so kam mit den Zerbstern die mit diesem Amt verbundene Familie Hübner nach Jever gezogen. In seiner Bestallung vom 5. Juli 1675 wurde Christian Hübner auch das Privileg eingeräumt, als einziger mit Hilfe seiner Knechte gegen eine Gebühr "sämtliches in der Stadt und Herrschaft verrecktes Vieh abledern und verscharren (zu) dürfen." Vermutlich gewann er dadurch ein reichliches Einkommen, denn in der Urkunde von 1747 an Andreas Christoph Hübner steht, er müsse die Exekutionen unentgeldlich, d. h. ohne jede Besoldung durchführen.

Merkwürdig. Unser Braunsdorf kennt in seiner "geographischen Beschreibung der Herrschaft Jever", die Büttelei nicht. Bringt aber den Abdecker mit dem Rakkergang in Verbindung:
"Hinter dem Hopfenzaun, in der Mitte nach dem Walle hinaus, befindet sich die alte Cavillerey, oder der Rakkergang, weil in vorigen Zeiten der Abdecker hier wohnte ..."

Rakkergang. Klingt fremdartig, aber vertraut. Als Rakker werden etwas wilde und ausgelassen spielende Kinder bezeichnet. Wir kennen den Ausdruck des Ab–Rakkern. Wenn einer viel arbeitet, zuviel arbeitet und kein Maß dabei kennt.
Im Gegensatz zur Kiekebushörn konnte uns Karl Fissen in dem 2. Teil der Festschrift zum Stadtjubiläum 1936 in seiner "Jeverschen Volkskunde" folgendes mitteilen: "Der Gang hieß früher auch "Cavillery", d.h. Abdeckerei, denn hier wohnte der Abdecker, der den verendeten Tieren das Fell abzog = "abfillte." ( Filler = altes Messer ). Ein "Ko-filler" kann als Kuhabzieher gedeutet werden."

Dieser Ausdruck "Cavillerey" findet sich auch in der oben erwähnten Urkunde von 1747 wieder. Neben der freien Benutzung zweier Häuser und dem Land erhält der Andreas Christoph Hübner noch die "Cavillerey in der Herrschaft Jever."

Laut eines fürstlichen Reskripts gehörte die "Büttelei", worin der Knecht des Scharfrichters wohnte, bereits anno 1690 der Landesherrschaft. Hübner verstarb 1757. Ihm folgte sein bisheriger Knecht H. Schreiber im Amt. Interessant ist eine Aussage bei Rogowki, der Abdecker und Scharfrichter würde mit seiner Familie zu den "unehrlichen" Leuten gehören. Seine Kinder mußten darum in der Schule auf einer gesonderten Bank sitzen. Was waren das nur für Zeiten.

Im Jahre 1784 folgte dem Vater der Sohn Samuel Friedrich Schreiber als Scharfrichter. 1794 erhielt er die Bestätigung der Cavillerey in der Herrschaft. In einer Dienstakte von 1813 heißt es über ihn: im vierundfünfzigsten Jahr stehend, mit Frau und zwölf Kindern gesegnet  – von denen aber nur noch drei am Leben waren. Zwei Jahre darauf warnt Schreiber im Wochenblatt, dass nur mit seiner Pettschaft besiegelte und von ihm ausgefertigte Scheine zum Abledern berechtigten. Noch am 10. Dezember 1835, inzwischen 77jährig, warnt er als amtlich bestellter Abdecker, in ähnlicher Weise. Im Jahre 1846 wollte der "Halbmeister" A. Greiff sein Haus mit Gartengrund "bei der Cavillerei" belegen und zu zwei Wohnungen eingerichtet, öffentlich verheuern (vermieten) lassen. Auch in der Bezeichnung des Halbmeisters ist der Makel der "Unehrlichkeit" noch anzutreffen. In wie weit die Verwertung der beim Rakkergang abgezogenen Felle oder Häute, mit dem gegenüber am Pferdegraben bestandenen Gerberhof verbunden waren, konnte noch nicht geklärt werden. Unterlagen der hiesigen Schuhmacherinnung als Besitzer der schon im 17. Jahrhundert betriebenen Stätte müssten herangezogen werden – wenn noch vorhanden.

Im Jahre 1924 kaufte der Schlachtermeister Wilhelm Lindeberg, Hopfenzaun 8, die nachbarlichen Häuser 10 und 12. Letzteres, inzwischen recht baufällig geworden, wurde, nach dem die dahinter liegenden Wohnungen bereits 1922 weichen mußten, 1930 abgebrochen. Der dadurch gewonnene freie Platz wurde nicht mehr bebaut und durch einen Zaun von der Straße abgegrenzt. So ist der Rakkergang der öffentlichen Passage entrissen worden.

Auf dem Baugrund der fünf abgebrochenen Wohnungen entstand ein neuer moderner Schlachtbetrieb. Im Jahre 1938 übernahm der aus Wilhelmshaven gebürtige Schlachtermeister Theodor Möhlmann den Betrieb. Er verlegte das Ladenlokal an den Wall 6.

Mit den Vertriebenen aus dem Osten verschlug es auch die Familie Munk aus Pommern ins Jeverland. In Förrien zuerst untergekommen, ergriff der Fleischermeister Max Munk 1950 die Gelegenheit, den Betrieb von Möhlmann zu pachten. Schon 1953 konnten Max und Erna Munk diesen sogar käuflich erwerben und im Laufe der Jahre weiter ausbauen und modernisieren. In dem nebenstehenden Anwesen Am Wall 5 etablierte sich 1955 der Fleischermeister Walter Laser als Roßschlachter. Aus dem "Ruhrpott" stammend, war er auch in Jever und Umgebung als Notschlachter – tags und nachts - tätig.

Sein Schwiegersohn Hartwig Ortgies, welcher seine Ausbildung bei Tammen am Neuen Markt erfuhr, übernahm den Betrieb 1967. Ebenfalls 1967 folgten seinen Eltern der Fleischermeister Günther Munk und Ehefrau Ilse, die gebürtig aus Masuren stammt und in Hohenkirchen aufwuchs. Dreißig Jahre standen sie dem Betrieb vor. Heute ist ihr Sohn Frank Munk Fleischermeister am Wall 6.

Viele Jeveraner verbinden die teilweise überdachte Passage neben diesem Fleischereigeschäft mit dem Rakkergang.  Dieser private Durchgang konnte aber erst mit dem Erwerb und Abbruch des Hauses Hopfenzaun 6 geschaffen werden. Da war unser altjeverscher Rakkergang schon Geschichte.

Wilke Krüger, August 2018.