Vom Glockenhaus zum Glockenturm für die Stadtkirche Jever

Die Höherführung des Glockenhauses von 1876


Der heutige Glockenturm der Stadtkirche ist neben den anderen Türmen von Schloss und Brauerei eines der häufigsten Fotomotive bei unseren Besuchern und Gästen. Der Blick durch die enge Superintendentenstraße hinauf mit dem vollständig sichtbaren Glockenturm wird in der Saison vielfach fotografisch festgehalten. Besonders beliebt war das Motiv vor über einem Jahrzehnt von der Steinstraße her, als noch eine grüne Girlande von Rankepflanzen zwischen dem Pfarrhaus und der Töpferei am Kirchplatz einen idyllischen Rahmen gab. Aber die grüne Girlande ist heute weg; ein Radikalschnitt auf Manneshöhe ist pflegeleichter...

1684
Erbaut A(nno) Dom. 1876 höhergeführt in jetziger Gestalt A(nno) Dom. 1902, © Bleck

Ein Foto die Flamenstraat hinauf, vom „Hörnig-Busen"1) (dem Platz vor der heutigen Schlosskäserei mit dem „Thron-Objekt") ist ein anderes beliebtes Motiv. Von diesen beiden Standorte gibt es seit 100 Jahren Fotografien und Postkartendrucke. Es tat sich damals besonders der Verleger und Buchhändler Carl Altona hervor, der mit den Postkartenansichten der Stadtkulisse vom Schlossturm herab auch sein Geschäft zeigen konnte (Schlossstraße 6).
Warum ist das Motiv Kirchturm so interessant? Was wird für die Besucher bzw. Fotografen mit diesem Bild „transportiert"?
Neugierige Besucher stellen sich dazu Fragen: Warum ein alleinstehender Glockenturm? Aus welcher Zeit stammt der Bau und finden sich Hinweise auf den Jugendstil? Sie werden vielleicht in einiger Höhe am Glockenturm die Sandsteinplatte mit den Daten zur Baugeschichte entdecken: 'Erbaut 1876, höhergeführt in jetziger Gestalt 1902'. Auf der anderen Turmseite finden sich in einer weiteren Platte die Namen der Erbauer: 'Arch. A. Sasse hAG2). Bauführer: Arch. H. Bomhoff. Unternehmer: LD. Neddersen u. W. Lonchat'.
Wollen Gäste mehr wissen?

Spannender ist die Frage, was ein „Einheimischer", über den Kirchplatz gehend, wahrnimmt. 'Sieht' er den Glockkenturm überhaupt noch? Im täglichen Gang über den Kirchplatz und den angrenzenden bebauten Bereich kann die Umgebung ja als selbstverständlich gesehen werden, als 'immer schon da' und rechtfertigungslose Kulisse. Einzelheiten fallen nur selten ins Auge. Vielleicht gibt es altes „Heimatkunde-Schulwissen" - darauf können die vielen hinzugezogenen Bewohner aber nicht bauen. Würde es auffallen, wenn der Turm plötzlich über Nacht verschwunden wäre? Ist der Glockenturm (Kirchturm) noch ein Identifikationspunkt?

Wie ist das bei anderen Gebäuden oder Teilen davon: Dekoration im Fenster, Leerstand, Weg-Sein? Erst größere Veränderungen in der weiteren Stadt-Umgebung lassen aufmerken - meist, wenn man 'betroffen' ist (z.B. durch Änderung seines 'Trotts'). Oder auch nicht, da die Stadtlandschaft nur zur Orientierung dient und deren Inhalte (Bebauung, Geschichte etc.) 'egal' sind und nicht interessieren? Was macht's: Veränderungen im Stadtgefüge sind die Konstante!
Wie steht es dabei mit „Entscheidern" in der Stadtgesellschaft: Hausbauer, Investoren, Geschäftsleute, Architekten, Ratsleute, Verwaltung u.a.? Welchen Blickwinkel öffnen diese, wenn etwas 'Raum-Bedeutendes' ansteht? Wird beim Neubau im Bestand die Nachbarschaft (von den Bewohnern bis hin zum Baustil...) einbezogen? Darf es darüber ein Gespräch geben oder sind Pläne 'fix und fertig'? Ist der Neo-Liberalismus das A und O...

Der Stadtrat als Vertreter der Bürger wartet auf Investoren. Nur (mehr) Investitionen bringen (mehr) Geld für Stadt und Gemeinschaft. Investoren sind in der jetzigen (immer) wirtschaftlich schwierigen Zeit rar. Der Investor hat seine wirtschaftliche Idee, er setzt sie durch. Ob das immer in die Stadtlandschaft passt?

Von 1790 an bis in die 1930iger Jahren wurde durch Forschungen und Veröffentlichungen3) zu heimatkundlichen Themen und geschichtlichen Ereignissen sowie naturräumlichen Gegebenheiten ein Bild dieser Stadt geschaffen, welches bis heute für das Selbstbewusstsein vorhält: 'Marienstadt', alter Sitz der Herrschaft des Jeverlandes, Schloss, ehemalige Festungsstadt, Schulort berühmter Forscher, viele Baudenkmäler, historische Altstadt etc.
Dieses Bild wird auch heute in der Städtewerbung genutzt - soll für den Tourismus weiter ausgebaut werden. Aber verliert sich dieses 'historische Jeverbild' nicht gegenwärtig in der Gewährung aller Anträge: der Betonklötze des Altstadtquartiers, der gesichtslosen Wohnhausfassaden in der Langen Meile, den immer gleichen Filialbauten der Ladenketten, der Architektur styroporkaschierter Kastenbauweisen, den gesichtslosen Maschinenklinker-Retrobauten? Ist die Entwicklung dahin mit den herbeigesehnten Investoren unumkehrbar: Abriss und Neubau derer Pläne?

Das geht mir durch den Kopf und bin von dem beschriebenen Standort am Kirchplatz hin die herumliegende Bebauung gekommen. Aktuell steht ja auch eine Satzungsänderung zum Sanierungsgebiet Nr. 4 4) an - welches das Alleinstellungsmerkmal der Stadt, den Graftenring, einbezieht.

Zurück zum Glockenturm auf dem Kirchplatz.
1876 musste das morsche hölzerne Glockenhaus aus dem Jahr 1564 abgerissen werden. Ein steinernder Glockenturm wurde erstellt, am heutigen Standort. Eine Übersicht über die damaligen Verhandlungen gibt H. Bredendiek in seinem Bericht zu '50 Jahre Glockenturm'. Während der Jahrhundertwende um 1900 aber kam Unmut über den fremd wirkenden Gebäudestummel auf, auch der Klang der Glocken schien nicht ausreichend zu sein. Sicherlich gab auch der 1901 erstellte schlanke Turm der katholischen Kirche an der Krummellenbogenstraße einen Schub in der Diskussion. "Der Mensch muß immer noch kommen, der ihn auch nur annähernd schön findet", schreibt der Rektor Anton Fissen5) am 01.06.1901 im Wochenblatt.

1900 Stummel
Das Glockenhaus 1876 bis 1902
© Sammlung W. Krüger
Anton Fissen hat als Mitglied im Kirchenrat zu dieser Diskussion im Jeverschen Wochenblatt zweimal ausführlich Stellung genommen. Diese Beiträge sind im folgenden lesbar abgedruckt - die Zeitung nutzte seinerzeit die Frakturschrift. Zusätzlich geben Postkartenansichten aus der damaligen Zeit einen Eindruck.

Bemerkenswert an diesen Ausführungen finde ich, wie ausführlich für die Öffentlichkeit zu Sachverhalten Stellung genommen wird - wie es heute meines Erachtens nicht mehr erfolgt. Die Legitimierung ist heute anders; ein Ausschuss braucht sich nicht zu rechtfertigen, einen Fachmann stellt man nicht in Frage.
Wenigstens eines sollten wir aus diesem Ausflug durch die Glockenturmgeschichte mit in die Gegenwart nehmen:
Bei jedem Neubau sollte das Anbringen der Namen der Verursacher und der Nutznießer zur Pflicht gemacht werden. Das sollte für passende und unpassende Gebäude gleichermaßen gelten. Aber bitte nicht so hoch und damit weit weg wie beim jetzigen Glockenturm.

Anton Fissen im Jeverschen Wochenblatt vom 1. Juni 1901 (in der Schreibweise der damaligen Zeit):

Der Glockenturm in Jever.
Im Jahre 1876 baute die evangelische Gemeinde der Stadt Jever den jetzigen Glockenturm, eigentlich nur ein Glockenhaus. Der Bauplan wurde von dem Bauinspektor Inhülsen in Oldenburg entworfen. Leider fand man bei Ausführung desselben einen so ungünstigen Baugrund, daß ein großer Teil der anfänglich veranschlagten Bausumme für das Fundament verausgabt werden mußte. Man hatte anfangs geglaubt, daß bei 1¼ m Tiefe fester Boden sei; später fand man darunter noch Särge, oft 2 und 3 über einander, und erst bei reichlich 6 m Tiefe erreichte man festen Sandboden. Die ganze Bausumme beläuft sich auf 25 000 Mk. Der Glockenturm ist bis zum Dach 17,5 m, mit demselben ca. 20 ;m hoch. Das Fundament ist so sicher und solide angelegt, daß im Gebäude nicht der gelindeste Riß entdeckt werden kann, und man weiß doch, wie leicht hier in Jever Fenster- und Thürbögen eine Verschiebung erleiden. Mit recht durfte der Erbauer Inhülsen bei der Uebergabe und Abnahme des Turmes zu den Jeveranern sagen: „Da hab Ihr ein Glockenaus; was Ihr später daraus machen wollt, das ist Eure Sache."

JW 1875
Schon 1875 gab es eine öffentliche Ausschreibung.
Jeversches Wochenblatt, 09.10.1875
Der Turm hat reichlich 25 Jahre gestanden, und der Mensch muß immer noch kommen, der ihn auch nur annähernd schön findet. Die Frage, ob etwas Besseres aus dem Turm zu machen sei, ist gewiß schon oft erwogen. Aufs neue wurde sie kürzlich angeregt, als es hieß, die neuen Glocken könnten erst klingen, wenn sie höher gehängt würden. Freilich dürften wir auch jetzt mit unserem Geläute zufrieden sein; aber daß es bedeutend gewinnen würde durch Höherlegung der Glockenstube, ist außer Frage. Eine abermalige Anregung in der Sache geben uns unsere Mitbürger der katholischen Kirche, die durch ihr hübsch und geschmackvoll gegliedertes Gotteshaus der Stadt Jever einen besonderen Schmuck verliehen haben. Allerdings erhob sich jedesmal sofort Bedenken, daß es überhaupt unmöglich sei, aus dem einmal verdorbenen Gebäude etwas Befriedigendes zu machen. Das Glockenhaus abbrechen und an die Kirche einen neuen Turm bauen, das war in den Augen der Kirchenvertretung ein so gewagter Gedanke, daß kein Mitglied näher auf den Plan einzugehen wagte. Ebensowenig konnte der Vorschlag Anklang finden, das Glockenhaus zu lassen, wie es ist, und es für andere Zwecke, z. B. als Steigerturm der städtischen Feuerwehr, in Aussicht zu nehmen. Dann würde unser Kirchplatz das unschöne Gebäude behalten, und die Aufführung eines neuen Turms an der Kirche würde ganz bedeutend mehr Kosten verursachen, als die Höherführung des vorhandenen Glockenhauses.
Alle diese Bedenken und unfruchtbaren Erwägungen waren mit einem Schlage verschwunden, als durch die Freundlichkeit eines Architekten eine Skizze vorgelegt wurde, die den unzweideutigen Beweis liefert, daß aus dem jetzigen Glockenhause ein herrlicher Turm gebaut werden kann, der sowohl unserer Kirche und dem Kirchplatze, als auch unsrer Stadt eine bedeutende Zierde verleiht. Die Skizze fand im Kirchenausschuß wie im Kirchenrat ungeteilten Beifall, und von einer Seite wurde sogar vorgeschlagen, von weiteren Entwürfen abzusehen und die vorliegende Skizze als maßgebend für die Ausführung zu betrachten. In gemeinschaftlicher Sitzung unserer Kirchbehörden wurde jedoch beschlossen, ein Preisausschreiben zur Erlangung von Plänen für die Höherführung unseres Glockenhauses zu erlassen. Der Kirchenausschuß hat die vom Kirchenrat zu diesem Zwecke beantragte Summe von 500 Mk. bewilligt, so daß als erster Preis 300 Mk., als zweiter 100 Mk. ausgesetzt werden können und noch 100 Mk. zur Deckung der übrigen Kosten des Preisausschreibens bleiben. Das Preisgericht soll aus 5 Personen bestehen, aus 2 auswärtigen Fachleuten und 3 noch zu wählenden Mitgliedern der hies. Kirchenvertretung. Die eingesandten Entwürfe gelangen nach der Preisverteilung in Jever zu öffentlicher Ausstellung. Gegen Auszahlung der bezüglichen Preise gehen die gekrönten Entwürfe in das Eigentum des Kirchenrats über. Der Kirchenrat übernimmt keine Verpflichtung, die prämiierten Entwürfe zur Ausführung zu bringen, noch den prämiierten Künstlern event. die Ausführung zu übertragen; nur wird dem Verfasser der mit dem ersten Preis gekrönten Arbeit die Lieferung der Detailzeichnungen zugesagt, falls sein Entwurf zur Ausführung gelangt.
Die hies. Kirchenvertretung will sich nach keiner Seite binden, sie versucht nur, den möglichst besten Entwurf für einen Plan zu erhalten, der nach der vorhin genannten Skizze recht wohl ausführbar ist. Dabei glaubt die Kirchenvertretung überzeugt sein zu dürfen, daß nach der Veröffentlichung der Entwürfe das Bedenken, aus unserem Glockenhause könne nichts Ordentliches werden, schwindet. Um so mehr ist dies anzunehmen, da nach dem Urteil von fachkundiger Seite die isolierte Lage des Turmes den Architekten eine größere Freiheit in der Erfindung der Formen gestattet, als dies bei Angliederung des Turmes an die Kirche der Fall sein würde, die dann allein bedingend für den Entwurf wäre.
Die Höherführung des Turmes nach der genannten Skizze kann für 15 000 Mk. geschehen. Der vorhandene Turm hat 25 000 Mk. gekostet, und wenn für dieses Geld kaum ein geeigneter Platz für die Glocken und erst recht keine Zierde der Kirche und der Stadt erreicht ist, so kann es uns doch freuen, daß wir eine Möglichkeit gefunden haben, mit einer Nachzahlung von 15 ;000 Mk. den mehr oder weniger resultatlos verbauten 25 ;000 Mk. noch einen befriedigenden Erfolg zu verschaffen. Nehmen wir an, die 15 000 Mk. würden bei 3½ % Zinsen in 50 Jahren amortisiert, so hätte unsere evangelische Gemeinde eine jährliche Mehrausgabe von ca. 650 Mk. zu leisten, das macht nach der Einkommensteuer berechnet, auf jede Mark Steuer etwa 2 Pfg., auf 50 Mk. Steuer also 1 Mk. Kirchenanlage mehr. Unsere Kirchengemeinde hat das Glück, ein bedeutendes Vermögen zu besitzen, so daß die Gehaltsbeträge der Prediger völlig aus den Zinsen und Pachtgeldern des Kirchenvermögens gedeckt werden. Ueber die Höhe unserer Kirchenanlagen können die Gemeindemitglieder sich deshalb mit Recht nicht beklagen, namentlich nicht in Erwägung des Umstandes, daß für kirchliche Handlungen keine Gebühren bezahlt werden. Die Kirchenvertretung unserer Stadt hat in der geringen Erhöhung der Steuer keinen Grund finden können, den Wunsch vieler Gemeindeglieder, bei unserer Kirche einen würdigen und zweckentsprechenden Turm zu haben, zurückzuweisen; vielmehr hält sie es ihrerseits für ihre Pflicht, alles zu thun, was zur Erfüllung dieses berechtigten Wunsches beitragen kann.
Aus dieser Darlegung des Sachverhalts möge hervorgehen:
1. Die hiesige Kirchenvertretung thut in der Angelegenheit des Glockenturms keine Schritte, die nicht vorher von sach- und fachkundiger Seite gebilligt wären;
2. am hies. Glockenhause soll kein Stein geändert werden, wenn nicht die Gewißheit vorliegt, daß aus dem jetzigen Gebäude ohne allzugroße Kosten ein Turm werden könne, der unserer Gemeinde zur Freude und zur Ehre gereiche.
Jever, 1901 Mai 31. Fissen

Im Wochenblatt vom 10. Oktober 1902 ergänzt Anton Fissen:

Leider sind über den Bau unseres Glockenturmes Gerüchte verbreitet, die mit der Wahrheit in völligem Widerspruch stehen. Es möge deshalb gestattet sein, einige Punkte hier zu erörtern.
Bei Errichtung eines Gebäudes ist die Beschaffenheit des Untergrundes von größter Bedeutung. Von unserm Glockenturm durften wir annehmen, daß derselbe auf festem Kieboden stehe. Als die Arbeiten an der Höherführung beginnen sollten, wollte der Bauunternehmer Neddersen sich davon überzeugen und ließ Bohrungen vornehmen. Diese bestätigten, daß in 5 bis 6 Meter Tiefe fester Kies vorhanden ist, und so nahm der Bau seinen Anfang. Die Beaufsichtigung des Baues ist auf Vorschlag des Herrn Architekten Sasse dem Herrn Architekten Bomhoff übertragen, der mit größter Vorsicht und Genauigkeit alle Einzelheiten beim Bau überwacht. Beim Durchblättern der Akten über den Bau des alten Glockenturms fiel ihm ein Brief auf, in dem sich eine Bemerkung über das angelegte Fundament fand. Diese bemerkung war damals befriedigend erledigt; doch wollte Herr B. sich nicht dabei beruhigen, sondern ließ im Innern des Turmes einen Teil des Fundaments bloßlegen.

Baugerüst 1902
Herbst 1902 kurz vor der Fertigstellung.
Das Baugerüst, die Förderanlage sowie eine Schablone für die Mauerbögen sind gut zu erkennen, © Sammlung W. Krüger
Da stellte sich heraus, daß die Mauern nach unten nicht in der Weise dicker werden, wie vorher allgemein angenommen war. Nachdem Herr Sasse davon Nachricht erhalten hatte, emfahl er eine Verstärkung des Fundaments, und die Baukommission durfte über die Annahme seiner Vorschläge keinen Augenblick im Zweifel sein. Die Vorschläge sind folgende: Die Erde innerhalb der Turmmauern wird herausgeschafft, damit das ganze Fundament bloßliegt. Die Bogen in den Mauern werden mit Beton (Cementmörtel) ausgefüllt. Unten am Boden wird ebenfalls eine 1½ Meter hohe Betonschicht eingestampft. Ueber diese Schicht werden zwischen je zwei gegenüberliegende Mauern vier starke eiserne Träger gelegt, die an beiden Enden durch die Betonausfüllung der Bogen führen. Bei dieser Arbeit sind die freigelegten Flächen des Fundaments sorgfältig zu reinigen, damit der Beton sich mit dem Mauerwerk fest verbindet. So erhalten die Mauern des Fundaments unter sich eine feste Verbindung, und es ist ausgeschlossen, daß derselbe nach dieser oder jener Seite sinke.
Die Ausführung dieser Arbeiten ist nicht leicht, weil zunächst alle Erde aus dem Innern des Turmes geschafft werden mußte. Nachdem dies geschehen ist, hat man Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, daß die Fundamentbogen bisher in keiner Weise dem Drucke nachgegeben haben, die Erde unter den Wölbungen liegt völlig lose und locker. Auch hat man bestätigen können, daß die Fundamentsohle überall wirklich auf festem Boden ruht, denn die Ausgrabungen weiter nach unten haben groben, harten Kies ergeben.
Der hiesige Stadtmagistrat als Baupolizei hat zur Sicherheit ein Gutachten des Herrn Baurats Trouchon eingeholt. In diesem Gutachten heißt es:Ist unter der Fundamentsohle wirklich harter Kies vorhanden, so würde dem Turme auch ohne die Verstärkung Gefahr nicht gedroht haben, da nach an anderen Orten gemachten Erfahrungen und angestellten Belastungsproben die Tragfähigkeit von festgelagertem Kies und Sand zu 5 Kg. auf den Quadratzentimeter anzunehmen ist." Nach der von Herrn Architekt Bomhoff aufgestellten und von Herrn Baurat Trouchon geprüften Berechnung beträgt das Gewicht des vollendeten Turmes o  h n e die Verstärkung des Fundaments 1 579 417 Kg., m i t der Verstärkung 1 971 217 Kg. Die tragende Fläche, die Fundamentsohle ist v o r der Verstärkung 393 600 Kbm., n a c h derselben 738 500 Kbm. Zieht man den Winddruck und die Schwankungen der Glocken beim Läuten mit in Betracht, so ergiebt sich für das Fundament ohne Verstärkung im ungünstigsten Falle ein Maximaldruck von 4,7 Kg. auf 1 Quadratzentimeter. Nach der Verstärkung des Fundaments kann der Druck im günstigsten Falle 3,1 Kg., im ungünstigsten 4,2 Kg. betragen, dies wird davon abhängen, inwieweit eine gleichmäßige Belastung der alten und der neuen Teile zu erreichen ist. Auf alle Fälle kommt unser Turm nicht an die Grenze der Tragfähigkeit des Unterbodens von 5 Kg. hinan, und diese darf hier um so eher vorausgesetzt werden, da die Fundamentsohle so dicht liegt.
Aus diesen Mitteilungen dürfte hervorgehen, daß wir durchaus keine Bedenken zu haben brauchen, über die Festigkeit des neuen Glockenturmes, und wenn böse Zungen erzählen, daß der Turm jetzt schon Risse zeige, daß er nicht mehr im Lote stehe, daß er nach einer Seite hinüberneige, so sind das Behauptungen, bei denen man nur bedauern kann, daß es Leute giebt, die sie glauben.
Die Verstärkung des Fundaments ist eine Vorsicht, die von fachmännischer Seite empfohlen wurde, und die kein Mitglied der Kommission von der Hand zu weisen wagte. Ob sie gerade notwendig war, das kann vielleicht niemand entscheiden, auch schwerlich ein Fachmann. Leider wird die Ausführung des Baus sehr dadurch verzögert; denn so lange am Fundament gearbeitet wird, darf oben nur in beschränkter Weise fortgefahren werden. Aber jedenfalls ist zu hoffen, daß der Turm in nächster Woche gerichtet werden kann. Die Gegenreden werden freilich wohl nicht eher aufhören, als bis der Bau ganz fertig ist und der Turm selber für sich spricht.
Jever, 9. Okt. 1902 Fissen

Baugerüst 1902 vom Hotelturm 1898
Der Kirchplatz vor der Jahrhundertwende 1900,
Postkarte © Sammlung W. Krüger
Stadtansicht vom Hotelturm 1898,
Postkarte © Sammlung W. Krüger
vom Schlossturm vom Hotelturm 1898
Jever vom Schlossturm,
Postkarte © Sammlung W. Krüger
Die Entwicklung eines Glockenturmes,
Postkarte © Sammlung W. Krüger
Baugerüst 1902 Der neue Turm ab 1902
Herbst 1902 kurz vor der Fertigstellung.
Das Baugerüst wird entfernt.
© Sammlung W. Krüger
Der neue Glockenturm ab 1902,
Postkarte © Sammlung W. Krüger
JW_1929-07-31_50-Jahre Die Erbauer
Jeversches Wochenblatt vom 31. Juli 1928
Der heutige Glockenturm: Architekten und Baufirmen sind angegeben - aufgrund der Höhe nur bedingt lesbar. © Bleck

Fußnoten:
1) "Hörnig-Busen": benannt nach dem Stadtdirektor Fritz Hörnig (Amtszeit 1963 -1971), zu dessen Zeit die jetzige Bordsteinführung angelegt wurde.
2) hannoversche Architekten-Gilde
3) Einige der Namen: Martens, Braunsdorf, Woebcken, Riemann, K. Fissen, Sello, Janssen-Sillenstede. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dieses Bild der Stadt selbstredend verstärkt propagiert.
4) 1. Änderung der Gestaltungssatzung der Stadt Jever für das Sanierungsgebiet Jever IV „Lohne/Schlachte/Hooksweg“
- Örtliche Bauvorschrift gemäß § 84 Niedersächsische Bauordnung (NBauO) -
hier: Auslegung gemäß § 84 Abs. 4 NBauO in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Baugesetzbuch (BauGB) zwischen dem 22.03 und 30.04.2021
5) Anton Fissen, Rektor der Mädchenschule ('alte Kasernen') und Leiter der ersten Berufsschule im Jugendheim P. W. Janssen-Weg, Mitglied im Rat der evangelischen Stadtkiche Jever.
Sein Sohn Karl Fissen ist durch seine Heimatforschung 1968 Ehrenbürger der Stadt geworden.

Quellen:
Hein Bredendiek, 50 Jahre Glockenturm 1902 - 1952. Aus: Historienkalender auf das Jahr 1952, Seite 26 - 28
Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg. Hier : Anton Fissen S. 192 f.
Jeversches Wochenblatt vom 1. Juni 1901
Jeversches Wochenblatt vom 10. Oktober 1902
Jeversches Wochenblatt vom 31. Juli 1926
Astrid Dittmer: 49 Architekten wollten Jevers Glockenturm bauen. In: 100 Jahre Jeverland. Hrg. Helmut Burlager. 1999, Jever.
Repro der Postkarten V. Bleck

Dank an die Sammlung W. Krüger

V. Bleck, März 2021

 

 

 

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