Eine unbekannte Flurbezeichnung gibt uns Rätsel auf.
Viele Straßen- und Wegenamen kann unser Jever aufweisen. Ebenso Flurnamen aus alter Zeit, welche bis in die jüngste Vergangenheit erhalten blieben. Andere Namen sind uns im Laufe der Jahre durch neue Ansiedlungen und neue Wegeverbindungen leider abhanden gekommen. Wenn unsere Heimatforscher da nicht gleich nachhakten, gingen diese Namen unwiederbringlich verloren. Dem jeverschen Feldwebel Martens und dem Pastoren zu Waddewarden, Magister Braunsdorf, verdanken wir bereits um 1800 die erste Aufzählung für unseren Heimatort, aber auch für das ganze Jeverland [s. neue Edition Martens]. Über hundert Jahre weiter wirkten auf diesem Gebiet Johann Eden für Schortens, Georg Janßen für Sillenstede und Hinrich Fastenau für Tettens. Einige Namen sind nicht einmal auf den Plänen verzeichnet, sondern wurden uns über Generationen hinweg überliefert – wo wir aber in der Gegenwart nur anderslautende Straßennamen vorfinden. So werden wir ein Schild mit dem Namen "Hochhamm" in Jever vergebens suchen. Durch diesen schon lange bestehenden Distrikt in der Vorstadt, westlich an der langen Schützenhofstraße sich ausdehnend, führen heute die Danziger- und die Kolbergerstraße gen Westen hindurch. Viele weitere Straßen gehen links und rechts ihres Weges. Eine "Osterstraße" gab es wirklich, für eine gewisse Zeitspanne um 1900, davor und danach. Der alte, schon im 17. Jahrhundert bestandene Name "Kaakstraße" blieb aber nebenher immer bestehen und wurde später wieder aufgenommen.
Haben wir nun bei den vorgenannten Örtlichkeiten die Ahnung von ihrer Lage, so trifft dieses nicht auf eine andere, näher an die Altstadt gelegene Bezeichnung zu: Schon seit mehr als hundert Jahren ist die "Wolfsschlucht" kein Begriff mehr in unserer Stadt. Ganz zufällig bei einer heimatkundlichen Suche in unserer Schloßbibliothek, schon vor über fünfunddreißig Jahren, fand ich beim Studieren in den Jeverländischen Nachrichten von 1872 diesen ersten Hinweis:
"Zuwegung zum Bahnhof betr." Amtliche Nachricht in den Jeverländischen Nachrichten vom 27. Januar 1872 |
Keine der mir bekannten Schriften zur hiesigen Stadtgeschichte von Braunsdorf, Sello, Fissen oder Orth kannte diese mir doch interessant anmutene Bezeichnung. Dennoch muß in der damaligen Bevölkerung diese Wolfsschlucht in soweit bekannt gewesen sein, da sie in der Presse als Orientierungshilfe benannt wurde. Diese in der Stadtratssitzung projektierten, drei Zuwegungen zum Bahnhof, damals noch "ins Grüne" gehend, sind heute inmitten unserer Stadt zu finden: "1. von Hayen Hause ...", damit ist des Haye Gerriets Hayen Gasthof, in der Traube, an der Albanistraße gemeint. Ende der fünfziger Jahre verfallen und einem Neubau gewichen. Davor verlief ein Weg unter der heutigen Sophienstraße entlang zu dem neu angelegten Bahnhof. Der idyllisch gelegene Jaspers Garten befindet sich an der Ecke zur Lindenallee, hinter der gelbfarbenen Villa. Auf der einst südwärts davon belegenen Dreesche (bis in Höhe der Bismarckstraße), erfolgte in den nachfolgenden Jahrzehnten eine exklusive Bebauung.
Die zweite Verbindung ist über den Pannewarfer-Weg (die Bahnhofstraße übergehend zur Kleinen Bahnhofstraße) und die später so benannte Schlosserstraße zu suchen.
Die dritte Variante "von der Wasserpfortstraße aus durch die sogenannte Wolfsschlucht" – damit kann nur eine Zuwegung, über den später angelegten Schlosserplatz und die Schlosserstraße gemeint sein.
Der Vorstadtbereich zwischen
heutiger Bahnhofstraße und Lindenallee, Aussschnitt aus dem Plan von H. Gier, 1890. gelb: die 3 projektierten Wege zum Bahnhof |
Ausschnitt aus der amtlichen Meldung "Stadtratssitzung". Jeverländische Nachrichten vom 22. März 1874 |
Meents war der erste Wirt im Bahnhofs-Hotel, dem späteren Jugendzentrum und das Haus des Proprietairen Jaspers (Großvater von Karl Jaspers) ist das heutige Ärztehaus am Schlosserplatz. An dessen "nordöstlicher Ecke" lag also die Wolfsschlucht.
Nicht verhehlen möchte ich hier, schon vor ein paar Jahren in dem Glauben gewesen zu sein, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Versuchte mir selbst vorzustellen, was eine "Wolfsschlucht" ausmachen könnte, um sie von den damaligen Einwohnern als solche wahrgenommen zu werden.
Ein hiesiges Brillengeschäft hat einmal vor Jahren einen alten Vermessungsplan von 1843/ 44 bunt koloriert und neu zum Druck befördert. In der linken Bildhälfte ist das spätere Jaspers'sche Grundstück an dem oberen Ende der Pannewarf (heutige Bahnhofstraße) gut auszumachen. Zu jener Zeit führte die Prinzengraft noch bis an die Große Wasserpfortstraße heran, wo sich heute der baumbestandene Schlosserplatz ausbreitet. Erst im Jahre 1848 begannen die Erdarbeiten zur Endfestigung der südlichen Alttadtbegrenzung. Der an der Mönchwarf und der Krummen Ellenbogenstraße sich verlaufende, so sieben bis acht Meter hohe Stadtwall wurde abgetragen. Nicht unerhebliche Mengen der Erdmasse wurde zur Verfüllung von diesem Teil der Prinzengraft verwendet.
Der Vorstadtbereich vor der Anlegung des Schlosserplatzes mit der noch bis an die Wasserpfortstraße verlaufende Prinzengraft. gelb: Die vermutete Lage der sogenannten Wolfsschlucht bei Jaspers und Jürgens Garten |
Nun gab es zwei, mir vorstellbare Möglichkeiten. Entweder haben die Erdmassen zur Verfüllung des alten Stadtgrabens nicht ausgereicht und ein kleiner Teil blieb daher unverfüllt. Dieser Teil würde schon eine passable "Schlucht" abgeben. Oder aber die Erde war in der Höhe dieser "nordöstlichen Ecke" des Jaspers'schen Geländes im Laufe der Zeit wieder in sich eingesunken. Dann könnte diese Vertiefung ebenso als eine Schlucht wahrgenommen worden sein. Allemal ein interessanter Spielplatz für die nach 1853 gebaute Stadtmädchenschule. Ausgelassen spielende Kinder in dieser Vertiefung – und die "Wolfsschlucht" würde aus der Taufe gehoben sein... Ob allerdings die Stadtväter einen solchen Zustand, über Jahrzehnte hinweg unbeachtet ließen, sollte eigentlich zu bezweifeln sein?
Zudem haben wir eine Lithographie des begabten Künstlers F. G. Müller, angefertigt zum Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Gerade also kurz vor dem ersten Meldungen zur "Wolfsschlucht."
"Die Mädchenschule" Ausschnitt aus der Lithographie von F. G. Müller |
Unter mehreren verschiedenen Ansichten unserer Stadt, sticht die eine gerade heraus. Sie präsentiert uns mittig die neue Schule und davon östlich gelegen die Lehrer Wohnung. Rechter Hand die älteste bekannte Abbildung der Jaspers'schen Villa (noch ohne den heute markanten Dachstuhl) und damit gerade auch, die "nordöstliche Ecke" des zugehörigen Geländes. Leider ist eine Senkung im Boden nicht zu entdecken. Aber würde ein Zeichner, der die Stadt gewinnend porträtieren vermochte, jenen Makel im Bild auch festhalten?
So gut meine Idee mit dem Prinzengraben auch gefallen mag – sie fällt durch, da in der folgenden Nachricht von den Stadtratsverhandlungen der Jürgens'sche Garten ausdrücklich genannt wird: Soweit, bis in die Richtung der Ecke Schlosserstraße und dem Philosophenweg, reichte der Prinzengraben nun mal nicht heran.
Amtliche Meldung der Jeverländische Nachrichten vom 22. November 1874 |
Ob die zwölf bewilligten Taler der Maßnahme gerecht wurden? Wir wissen es nicht. Hilfreich bei der Lagebestimmung unserer Flurbezeichnung ist die Nachricht ungemein. Bildet sich doch beim wiederholtem Lesen, eine neue mögliche These hervor. Wenn "ein Streifen des Gartens an der Wolfsschlucht lag" und dessen Wegnahme den Weg verbreitern half: Kann dann nicht die (später so benannte) Schlosserstraße selber diese Wolfsschlucht ausmachen?
Endlich müssen wir uns im Klaren werden, wie wir eigentlich eine Schlucht definieren? Als ein "enges, tiefeingerissenes Tal mit fast senkrecht einfallenen Hängen" beschreibt sie der Brockhaus. Gewiss, unser Jever liegt auf einer augenscheinlichen Anhöhe. Sie ist im Süden (über die Bahnhof- und Mühlenstraße) nur leicht ansteigend. Aber nördlich vom Wangerland über die Schillerstraße merklich steiler auszumachen. Die mit Erde bedeckten Hügel im Schloßgarten (Schutt der Unterburg) und in den Anlagen ( der heute entschwundene "Pulverturm", eigentlich ein Pulvermagazin), auch der sogenannte Woltersberg aus grauer Vorzeit, besaßen und besitzen ihre ganz eigenen Abhänge. Jedoch kann eine Schlucht nur zwischen zwei Erhebungen durchlaufen.
Unwillkürlich muss ich an den "Hohlen Weg" denken. Ursprünglich unbefestigt, haben Ackerwagen und Viehtrieb den grundlosen Boden im Laufe von Jahrhunderten so zerfurcht, dass die beidseitigen Böschungen, gleich Erdwällen, sich erhoben. So kam wohl dieser alte Namen zustande.
Auch die Schlosserstraße, welche um 1893 noch als Bahnhofsweg benannt wurde, war ein solch alter Fußweg, der schon auf dem ältesten, 1742 gezeichneten Plan nachgewiesen werden kann und sich weit in Richtung des Siabbenmoores verlief. Ungepflastert und grundlos kann auch er ein Hohlweg gewesen sein, was man sich heute, bei seiner dichten Bebauung, kaum noch vorzustellen vermag. Eine sogenannte Wolfsschlucht?
Nach der Anlegung des Bahnhofes und der aufkommenden Nutzung dieses Weges durch die Fahrgäste erfolgte 1874 ein erster Ausbau und eine Reihe mit Lindenbäumen wurde angepflanzt, den Weg unterteilend für einen schmaleren Fußweg und einen breiteren Fahrweg. Diese Bäume sind noch auf älteren Ansichtskarten vorhanden, mussten aber leider bei der ersten Pflasterung der Straße im Jahre 1908 weichen [siehe Abb. in Friedrich Orth, Die Straßen der Stadt Jever, Mettcker, Jever 1985, S. 125].
Einiges haben wir durchdacht - eine glaubhafte und zufriedenstellende Schlussfolgerung daraus aber noch nicht gefunden. Das mit rund 180 laufenden Metern deponierte "Stadtarchiv Jever" im Staatsarchiv zu Oldenburg könnte vielleicht eine Lösung bringen. Sechs "Findbücher" mit Registern der alten Stadtakten sind erstellt und im Druck herausgeben worden. Die "Wolfsschlucht" aber wird nirgends erwähnt. Also, wo anfangen?
Wilke Krüger, im Juli 2019.