Einblicke in das „Führerprinzip"
Wie sah die Ratsarbeit in Jever in der Zeit des 'Dritten Reiches' aus? Darüber gibt das „Niederschriftsbuch über die Beratung mit den Gemeinderäten und über die Entschließungen des Bürgermeisters" einen unmittelbaren Einblick.
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Dass sich diese Niederschriften erhalten haben, ist sicherlich auch der formalisierten Dokumentation zu verdanken. Die nummerierten Formblätter wurden in den 1950er Jahren gebunden und befanden sich lange Zeit auf dem Dachboden des Rathauses. Heute befindet sich das Buch im Landesarchiv Oldenburg unter der Signatur NLA OL, Dep 25 JEV, Akz. 2014/072 Nr. 344.
Am 1. April 1935 trat das Gesetz über die Deutsche Gemeindeordnung (DGO) vom 30. Januar 1935 in Kraft. Dieses Gesetz vereinheitlichte die über 30 Gemeindeordnungen und -verfassungen der bisherigen historischen Landesteile des Reichsgebietes, sogar einschließlich Österreichs. Im Land Oldenburg galt bis dahin die Revidierte Gemeindeordnung vom 15. April 1873.1)
Zu dieser Gemeindeordnung ab 1935 gibt Wikipedia Informationen und Hinweise auf weiterführende Texte. Die DGO ist einsehbar über den Server www.verfassungen.de. Mit der Kapitulation trat unter der britischen Militärregierung in der Nordwestzone am 01.04.1946 eine revidierte Deutsche Gemeindeordnung in Kraft, die das Führerprinzip wieder abschaffte und eine Doppelspitze mit Bürgermeister und Gemeinde- bzw. Stadtdirektor einführte. Teile der vorherigen DGO sind in Niedersachsen aber erst durch den Erlaß der Niedersächsischen Gemeindeordnung vom 4. März 1955 (GVBl. I. S. 126) aufgehoben worden.
Der Einfluss der NSDAP bis hinein in die Rathäuser ist ab 1935 über die Gemeindeordnung unübersehbar:
§ 6 (2): „Bürgermeister und Beigeordnete werden durch das Vertrauen von Partei und Staat in ihr Amt berufen. Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP bei bestimmten Angelegenheiten mit. Die stete Verbundenheit der Verwaltung mit der Bürgerschaft gewährleisten die Gemeinderäte; sie stehen als verdiente und erfahrene Männer dem Bürgermeister mit ihrem Rat zur Seite."
§ 33: „Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP außer bei der Berufung und Abberufung des Bürgermeisters, der Beigeordneten und der Gemeinderäte.." mit. Auch die Hauptsatzung der Stadt bedarf der Zustimmung durch ihn.
Ab § 48 wird die Arbeit der Gemeinderäte beschrieben. So beruft - in dieser Reihenfolge lt. § 51 (1) - „der Beauftragte der NSDAP [...] im Benehmen mit dem Bürgermeister die Gemeinderäte." In § 57
(3) wird bestimmt, dass über den wesentlichen Inhalt der Beratungen eine Niederschrift zu fertigen ist. „In dieser Niederschrift sind abweichende Äußerungen der Gemeinderäte aufzunehmen. Auch sonst ist jeder Gemeinderat berechtigt, seine Auffassung zur Niederschrift zu geben. Die Niederschrift wird von dem Bürgermeister und zwei von ihm bestimmten Gemeinderäten unterzeichnet."
Wie das im Rathaus am Kirchplatz umgesetzt wurde, mag der Leser anhand des vorliegenden Niederschriftsbuchs selbst beurteilen. Immerhin war Jever in jener Zeit eine Hochburg der Nationalsozialisten.
Im Landesarchiv sind für Jever - zumindest nach meiner Suche - nur wenige Unterlagen aus dem "Dritten Reich" einsehbar (gesperrt?), immerhin sind Ratsdokumente von 1933 bis 1935 nach der vorher geltenden Gemeindeordnung vorhanden.
Zu dem Niederschriftsbuch:
Auf den ersten Seiten sind lesenswerte Erläuterungen mit Musterbeispielen für die Niederschrift und Entschließungen vorangestellt. Die auf dem Titelblatt nicht eingefügten Daten wären: 49 „Blätter" (= Sitzungen) zwischen dem 28. Juni 1935 und dem 19. Dezember 1944. Im Buch ist auf den letzten Seiten noch ein nicht genutzter Formularsatz mit der vorgegebenen Nr. 50 eingebunden.
Die Presse im Dienste des „Führers",
Jeversches Wochenblatt am 20. Juni 1938. |
Ein „Blatt" besteht aus dem Formular der Sitzungseröffnung für die Daten und anwesenden Personen. Darunter beginnen die Zeilen für die Niederschrift, die dann mehrere Seiten betragen kann. Abschluss des „Blattes" ist eine rosa Formularseite mit der Überschrift „Entschließung", auf die der Bürgermeister sein verantwortliches Handeln dokumentieren muss. Bürgermeister Folkerts hat seine "Entschließungen" mit einer Ausnahme (Blatt 39) immer handschriftlich ausgeführt.
Diese Seitenfolge ist nur bei der 8. Sitzung durchbrochen. Hier 'vertritt' der Zeitungbericht die erste Seite des „Blattes". Bis zur 21. Sitzung ist die Niederschrift mit der Hand geschrieben.2) Diese schwer entzifferbare Schrift wird ab der 13. Sitzung durch die eingeklebten Zeitungsausschnitte ergänzt. Diese Berichte im Jeverschen Wochenblatt sind meist ausführlicher. Es wird im Protokoll für weitere Inhalte der Sitzung sogar auf den folgenden Zeitungsbericht verwiesen. Ein Vergleich der Niederschriften führt manchmal zu einer erstaunlichen Aussagenvermehrung in den Zeitungsberichten.
Meist sind die Zeitungsberichte mit dem Kürzel „hw." unterzeichnet. Es handelt sich um den Lokalredakteur Heinrich Wille.3)
Eine weitere Bemerkung zu dem Niederschriftsbuch: Der Bürgermeister der Stadt Jever seit 1935, Martin Folkerts, wurde ab dem 3. Oktober 1941 zum Wehrdienst eingezogen. Sein ständiger Vertreter bis zum Ende des „Reiches" war Stadtrat Büsing, unterstützt vom NSDAP-Kreisleiter Flügel. Nach dem Ende seiner Wehrzeit wurde Folkerts von höherer Stelle ab dem 8. März 1943 bis zum Kriegsende als kommissarischer Bürgermeister auf Wangerooge eingesetzt.
Eine Tabelle zeigt neben den Sitzungsterminen und den entsprechenden Seitenzahlen weitere Angaben zur Schriftart und begleitenden Ereignissen. Sie kann als Grundlage für eigene Notizen dienen.
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1) In meinem Bericht über die Statuten der Stadt Jever zwischen 1853 und 1935 habe ich zu dieser vorherigen Oldenburgischen Gemeindeordnung das daraus ermächtigte Stadtrecht dargestellt.
2) Die handschriftlichen Protokolle harren noch der „Übertragung" in Maschinenschrift. Vielleicht findet sich jemand, der den Text ediert. Dieser wird dann hier eingestellt.
3) Heinrich Wille (16.01.1904, Vegesack - 08.12.2001, Jever) verbrachte seine Kinder- und Jugendzeit in Jever. Er fand ab 1930 eine Anstellung als Lokalredakteur beim Jeverschen Wochenblatt unter dem Schriftleiter Friedrich Lange, der die Zeitung seinerzeit zu einem „Völkischen Beobachter von Jever" entwickelte (Hartmut Peters in „225 Jahre Jeversches Wochenblatt" S. 28). Wille bearbeitete die Rubrik „Aus der Heimat" und andere lokale Themen. Wille engagierte sich sehr im Jeverländischen Altertums- und Heimatverein. Er verfasste 14 kleinere Heimatbücher, meist in plattdeutsch. Auch im Historien-Kalender hat er viele Beiträge veröffentlicht.
V. Bleck, April 2020