Warum "Neue" Straße?

Eine Ansichtskarte von 1902 zeigt uns das alte Jever.

Schon vor über drei Jahrzehnten begann ich Ansichtskarten mit den Motiven meiner Heimatstadt zu sammeln.

Neue Straße, um 1902, vom Alten Markt aus gesehen, koloriert
Einmal fand ich ein neues Exemplar bei einem Tauschtag. Zwar war dieselbe Ansicht bereits in meiner Sammlung vertreten, jedoch unfrankiert und nur in einer kolorierten Fassung. Der Verlag Reinicke & Rubin wurde als Lithographische Kunstanstalt um 1897 in Magdeburg begründet. Unter den vielen hundert verlegten Karten fanden sich auch Motive aus dem nordwestlichen Deutschen Reich, so auch aus Jever.

Auf dieser Ansichtskarte war nur sehr wenig Platz, für einen kurzen Gruß gerade ausreichend. Das kleine hellere Feld oben rechts war dafür abgeteilt. Manch einer hielt das für ungenügend. Schrieb über den ganzen Himmel hinweg – wo nur Platz zur Verfügung war. Auf der Rückseite durfte nur die Anschrift des Postempfängers vermerkt sein. Zum 1. Februar 1905 aber, wurde im deutschen Sprachraum der Trennungsstrich eingeführt. Fortan konnte auch der linke Bereich für Mitteilungen genutzt werden.

Schon interessant ist die bunte Farbenwelt, mit den roten Dächern und den bläulichen Glasfenstern, gegenüber dem geringen, einheitlich grün gehaltenen Baum- und Buschwerk. Für etwas Irritierung dürfte der blaue Bürgersteig Sorge tragen.

Präsentiert wird uns die Einmündung zur Neuen Straße, gesehen vom Alten Markt aus. Unsere Leser werden überrascht schauen. Vieles erscheint hier so anders aus als in der Gegenwart. Das markante Eckgebäude mit dem schmückenden Turm fehlt, heute geradezu prägend für die Nordseite des Marktplatzes. Links erkennt man eine auffällige Lücke in der Häuserreihe. Unwillkürlich fragen wir uns, welches Haus dort heute den Platz eingenommen hat?

Das ganz alte Jever scheint uns anzusehen, zumindestens Passanten auf dem Bürgersteig, ein Junge an sein Fahrrad gelehnt steht ganz unbeteiligt zur Seite schauend. Um einen Kinderwagen scharen sich eine Frau und Kinder. Nur wenige nehmen von dem Fotografen Notiz.

Warum eigentlich die "Neue" Straße?
Erst in den Jahren nach 1650 wurde sie auf dem Terrain des Alten Marktes angelegt. Eine Vorstellung davon kann der Interessierte auf der Abbildung einer weiteren Ansichtskarte aus meiner Sammlung entdecken. Das Schloss und der ihm vorgelagerte Marktplatz sind von dem Kupferstecher Heinrich von Lennep auf dieser ältesten Stadtansicht gut erfasst worden; wenn ansonsten in Einzelheiten wohl nicht zutreffend wiedergegeben
.

Kupferstich von Heinrich von Lennep aus der Winkelman-Chronik als Postkarte.
Der Bereich der Neuen Straße ist hier rot hervorgehoben.

Der südlichere Teil vom Alten Markt wirkt geräumiger. Die nicht näher bezeichnete Kaakstraße scheint den Platz aufzuteilen. Der nördlichere Teil wird verengt von der neuangelegten und anfangs einseitigen (östlichen) Häuserzeile der Neuen Straße, welche von der oberen Schlachtstraße nach Nordwesten begrenzt wird.

Gut lässt sich letzterer Verlauf, hinauf von der Schlachte bis zum Wangertor verfolgen. Zu weit in den Westen verschoben sind Galgen und Pranger in Höhe der neuen Häuserzeile dargestellt. Daneben eine hübsche Staffage von einen zweispännig gezogenen Wagen (Postkutsche?). Mochte der rührige Verleger Heinrich Clusmann diese Darstellung in das Jahr 1560 deuten. Sie erschien erst über hundert Jahre danach, in "Eine wahrhafte Beschreibung der Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst/ Her[r]schaften Jhever und Kniphausen/ ..." von Joh. Just Winkelmann und verlegt bei Zimmern, in Oldenburg 1671. Der Kupferstich ist ein paar Jahre zuvor, um 1667 ausgeführt worden (Vergr. Abb. in "Jever im Bild - gestern und heute", Jever 1976, S. 11).

Den ersten Juden, welche in Jever um Aufenthalt nachsuchten, wurde erlaubt, sich in der Vorstadt niederzulassen. Schon 1698 ist eine Familie Meier-Levi dort ansässig. Diese und weiter zugezogene sogenannte Schutzjuden lebten fortan an der "Judengasse", auch als neue Judenstraße oder einfach auf Platt als "de Jödenstraat" bezeichnet. Es konnte der Eindruck entstehen, dass die Herrschaft anfänglich an eine Ghettosierung in der Vorstadt gedacht, sie aber bald wieder verworfen hat. Jedenfalls entwickelte sich diese neue Verbindung zwischen dem Alten Markt und der Zufahrt in das Wangertor im Laufe der kommenden Jahrhunderte kontinuierlich zu einer der ersten Geschäftsstraßen. Jedes Haus hielt mindestens ein Gewerbe in seinen Mauern. In manchen waren auch mehrere auf engstem Raum vertreten.

Nur in ihren Anfängen scheinen dort nur Juden gelebt zu haben. Schon bald waren auch Einheimische lutherischen Glaubens hier ansässig. Ende des 18. Jahrhunderts sogar wieder Katholiken, wie wir weiter unten noch sehen werden. Schon in dieser Zeit, um 1800, setzte sich die Bezeichnung der "Neuen Straße" allmählich durch.
Kaum eines der ersten Häuser aus dem 17. Jahrhundert wird auf der Ansichtskarte von 1902 noch zu entdecken sein. Waren sie in ihrem Innern noch mit Zimmern älteren Stils ausgestattet, bekamen die Häuser nach außen immer neuere und prächtigere "Schürzen." In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben gar erste Schaufenster hier ihren Einzug gehalten. Auch begegnen wir an der Neuen Straße schon beidseitigen Gehsteigen. Wobei der Linke wohl als der Bequemere erscheinen mag.
Gleich mit dem jüngsten hier abgebildeten Gebäude wollen wir die Beschreibung der Ansichtskarte einläuten. Im Vorjahre, zum 15. Oktober 1901, hat der frühere Oberkellner im Oldenburger Ratskeller, Ernst Hunze, das Hotel "Zum Erbgroßherzog" in Jever übernehmen können. Zwei prachtvolle Laternen flankieren den Eingang des im neoklassizistischen Stil erbauten Gebäudes. Rund zehn Jahre wird er eines der größten Häuser unserer Stadt betreiben. Als Hotel bestand es bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Jeden Tag wurden zu den An- und Abkunftszeiten des hiesigen Bahnhofes mit dem "Hotelwagen" die Gäste des Hauses abgeholt oder hingefahren. Diesen Luxxus bot ansonsten in Jever nur der benachbarte "Hof von Oldenburg."
Die schon erwähnte Lücke neben seinem Haus füllt Hunze alsbald mit einer "Garten Restauration." Er lässt Rabatten und Buschwerk anpflanzen. Schafft lauschige Plätze auf engen Raum, wo man sich an warmen Tagen gerne aufhielt, den Kaffee oder Tee mit einem Stück Torte etwa unter freiem Himmel geniessend. Erst 1921 wird die Häuserzeile wieder geschlossen. Mit einem der ersten Häuser in Klinkerbauweise, in welchem Heinrich Hanenkamp erfolgreich sein Textilgeschäft begründete, welches bis zum Jahre 2014 bestehen sollte.

An den westseitig stehenden Gebäuden erkennen wir oben befestigte Ausleger, besetzt mit mehr oder weniger vielen Isolatoren. Gespeist wurden die Leitungen ab 1897 von dem am Kirchplatz neu erbauten Elektrizitätswerk (heute das ev. Gemeindehaus). Um die Jahrhundertwende standen noch mehrere hölzerne Masten auf dem Marktplatz verteilt, um auch die umgebenden Straßen mit Strom zu versorgen. Die einsame Hängeleuchte in der Bildmitte wird wohl spärlich des Abends unsere Straßeneinmündung erleuchtet haben.

Geradel eineinhalb Monate vor der Absendung neuen Ansichtskarte hatte der Uhrmacher Heinrich Paphusen das nach dem Garten  mit einem wuchtigen dreistufigen Giebel sich erhebende Anwesen erworben. Vom Langwarder Deich in Butjadingen stammend, war er zuerst nach Waddewarden gekommen, wo der ältere Bruder am Kirchhof eine Gastwirtschaft betrieb. Schon Nikolaus 1897 bezog der erst zweiundzwanzigjährige Uhrmachermeister das vormalige Pfarramt der katholischen Kirchengemeinde in der Neuen Straße.

Wer weiß das heute noch? Die erste Kirche der katholischen Gemeinde stand mitten auf der späteren Bundesstraße in Höhe des jetzigen Graftenhauses. Mit ihrem Abbruch im Jahre 1901 und nach einem Neubau an der Prinzenallee war auch das Pfarramt in der Neuen Straße obsolet. Die Witwe Antonie Heyder, welche einem Klempnerbetrieb in der Schlachtstrasse vorstand, erwarb das Anwesen. Während sie ihren Handwerksbetrieb in einer Hausseite unterbrachte, vermietete sie die andere Seite an Paphusen.

Nur wenige Jahre war der mit dem Mietverhältnis zufrieden, bald verlegte der junge Uhrmachermeister seine Werkstatt näher zum Alten Markt in jetzt eigene Räume.

Ehepaar Paphusen
Zur Zeit der Aufnahme befindet sich allerdings noch der Goldschmied Robert Lülwes in dem Haus. Der aus Detmold stammende Kunsthandwerker hatte sich hier schon zu Anfang der achtziger Jahre niedergelassen. Erst nach seinem Auszug und einigen Renovierungsarbeiten konnte der Heinrich Paphusen am 8. Mai 1903 sein Geschäft wieder eröffnen. Für gut fünfzig Jahre stand sein Name in allen Kreisen für eine qualitätvolle Uhrmacherkunst in unserem Land.
Jeversches Wochenblatt, Anzeige 1910
Auch im Jeverschen Schützenvereins war er schnell heimisch geworden. Besonders seine vierjährige (!) Amtszeit als Träger der jeverschen Königswürde hat ihn in die Vereinsgeschichte eingehen lassen. Die lange Tragezeit zollt dem Umstand Rechnung, als während des Ersten Weltkrieges keine Festivitäten abgehalten wurden.

Bis zu seinem Tode, er verstarb hochbetagt im Jahre 1956, hat er sein Uhrmacherhandwerk ausüben können. Leider war der einzige Sohn Johannes, ebenfalls gelernter Uhrmacher, schon in jungen Jahren verstorben. Weitergeführt von der jüngeren Tochter Edith, verheiratete Küster, übergab sie das Uhrengeschäft schließlich 1971 an Dieter Janßen. Nach dessen Dahinscheiden 1976 weitergeführt von seiner Witwe Margret Janßen. Anstehende Reparaturen wurden in der Werkstatt hintenan in den letzten Jahren von Uhrmachermeister Fritz Haschen ausgeführt. Im November 1989 entschloss sich die letzte Inhaberin diesen alten Handwerksbetrieb aufzugeben.

Dem Wunsch vieler Jeveraner, an dieser traditionellen Stelle weiter Uhren kaufen zu können, zollte der Juwelier Harms aus Bad Zwischenahn Rechnung. Unter der Geschäftsführung von Tochter Antje Wiemken eröffnet er hier seine dritte Filiale im Jahre 1991. Schon weilt heute der Juwelier wieder länger als ein Viertel Jahrhundert an dieser Straße .

Jeversches Wochenblatt, Anzeige 1886
Den ältesten Einzelhandel in unserer Stadt birgt das nächststehende größere Haus. Fast hundertsechzig Jahre ein Begriff für Eisenwaren: Die Firma J. F. Oetken. Ursprünglich aus einem noch Jahrzehnte älteren Handwerksbetrieb in der Kaakstraße hervor gegangen, begann diese Familie mit den Handel von Eisenwaren und Werkzeug anno 1860. Genau zwanzig Jahre später erfolgte der Neubau des abgebildeten Hauses mit großem mehrstöckigen Lagerhaus rückwärtig am von-Thünen-Ufer. Wie am "Erbgroßherzog" wird auch hier dem Kunden am Eingang durch zwei Kugelleuchten "Licht gemacht." Eröffnet wurde das "Ofenhaus" Oetken am 6. April 1880.

Noch gut erinnern kann ich mich an die Staubwolke, welche die Neue Straße ausfüllte, am 14. Februar 1983. Mit einer Baggerschaufel wurde der Giebel des kleinen Hauses, auf der Karte gerade hinter dem großen Geschäftshaus noch auszumachen, zum Einsturz gebracht. Das seit dem Jahre 1900 der Familie Oetken gehörige Anwesen sollte durch einen postmodernen Neubau (SB-Textilzentrale, heute das Restaurant "Ararat") ersetzt werden. Mehrere Jahrzehnte hindurch war hier, von vielen Einwohnern unvergessen, eine Filiale des oldenburger Kaffeehandels C. Retelsdorf etabliert. Feinste Pralinees und Gebäck wurden mit geschmackvoller Dekoration in den Schaufenstern angeboten. Für mich selber als Chronist eines Malereibetriebes hing mein Herz an dem alten Gemäuer in sofern, als hier im April 1892 der Urgroßvater Wilke Janssen Krüger seinen Betrieb begründete. Kam dessen erster Sohn noch in der Neuen Straße zur Welt, so erblickte der zweite, mein Großvater, schon 1895 das Licht der Welt am Kirchplatz.

Da krümmt sich nun der Verlauf der Neuen Straße gen Nordwest, die  weiteren Häuser bleiben uns verborgen. Einzig der Vorbau mit dem Eingang der Buchhandlung Remmers, über eine siebenstufigen Freitreppe zu erreichen, lugt gerade noch mit einem Fenster "ums Eck".

Wer in unserem Schloss und Heimatmuseum die rund fünfzig Stufen an der Spindel der Wendelteppe zu ersteigt (ein Fahrstuhl ist auch vorhanden) und ganz oben angekommen ist, sich nach rechts wendet: In dem ersten Raum, links hinter einer Glasscheibe, kann man eine alte Fotografie dieses interessanten Hauses erblicken. Siebenundsiebzig Jahre befand sich über der Freitreppe die Buch- und Schreibwarenhandlung Remmers. Meine Großmutter konnte mir noch von den furchtbar glatten Stufen an eisigen Wintertagen berichten. Rund sechzig Jahre überdauerte später, ohne die Freitreppe, hier das Weisswarengeschäft Quedens (später Pelz Seemann).

Geradezu, am Ende der Straße, wo wir heute den Kiebitzbrunnen vorfinden, erblicken wir 1902 dagegen das rechte Schaufenster der "Colonialwaaren=Handlung J. Alverichs", welche hier am 3. Mai 1887 begründet wurde. Fünfundzwanzig Jahre später übernahm Hermann Luiken das Geschäft und verlegte es nach weiteren 25 Jahren in die Große Wasserpfortstraße. 1954 ließ die Eigentümerin, die St. Pauli Brauerei in Hamburg, das baufällig anmutende Haus abbrechen. Auch der hohe, dunkle Giebel dahinter, das alte Sudhaus unserer Brauerei in Klinkerbauweise errichtet, musste wie schon viele andere Gebäudeteile der ständigen Erweiterung des Brauereibetriebes 1970 weichen.

Nur ein kurzes Stück der späteren "Markthalle" mit ihrem abgeflachten Krüppelwalm an der Schlachtstraße ist noch auszumachen. Damals war es die Hof-Bäckerei Ihnken, welche schon mehr als ein Viertel Jahrhundert dort ansässig war. Gab es zu Zeiten der Anhalt-Zerbster in unserem Jever, eine Vielzahl an sogenannten Hof-Handwerkern, so waren der Hof-Bäcker und der Hof-Apotheker Ende des 19. Jahrhunderts die Letzten, welche ein solches Privileg des jeweiligen Landesherrn besaßen.

Davor beginnt die Häuserzeile an der Ostseite der Neuen Straße. An der Ecke zur Schlachtstraße hatte sich gerade erst das Eisenwarengeschäft von Adolf Gerken etabliert. Mitte der zwanziger Jahre wird der Kaufmann D. J. Bakker die Firma unter dem alten Namen weiterführen. Älteren Jeveranern ist hier noch der Friseursalon von Fritz Hohmann ein Begriff, dem weitere seiner Zunft hier im Laufe der Jahre folgten. In jüngster Zeit gaben sich mehrere Inhaber von Geschenkartikelläden die Klinke nacheinander in die Hand.

Postkarte
Neue Straße, um 1902, vom Alten Markt aus gesehen.
Das jetzt gefundene schwarz-weisse Exemplar der Ansichtskarte gibt wesentlich besser die Konturen der abgebildeten Straße und der anliegenden Gebäude wieder. Gegenüber der kolorierten Karte ist das Motiv etwas höher angesetzt worden, um unten ein größeres und bequemeres Schreibfeld zu schaffen.

Diese Ansichtskarte wurde am 31.12.1902, als Neujahrsgruß von Regine Heeren aus Sande (Poststempel) verschickt. Die Empfängerin war ihre Freundin, das "Fräulein Kath. Martens per Addr[esse] Herrn Müller Heeren, Oberahn bei Neustadtgödens". Eine besondere Beziehung der Absenderin mit dem Motiv auf der Karte schien nicht zu bestehen.

Dass Hermann Pekol einmal sein Schuhgeschäft von der Schlachtstraße weg in die Neue Straße verlegte, wird kaum  noch bekannt sein. Im Haus des "Holtendrager" Gerhard Müller (heute Buchhandel Eckermann), welcher ursprünglich als Hausierer mit einer Kiepe, mit Holz- und Spielwaren befüllt, auf dem Rücken über das Land zog, gab der Schuhmachermeister nur ein kurzes Stelldichein.

Zum 1. Mai 1886 eröffnete der sesshaft gewordene Müller ein Geschäft für Waren aller Art, aus dem sich über viele Jahrzehnte das bekannte Geschäft für Spielwaren und Lederartikel entwickelte. 1930 wurde der auf der Karte noch erkennbare mächtige Giebel von anno 1777 abgebrochen und zurückgesetzt nun in Klinkerbauweise hochgezogen. Bald nach dem hundertjährigen Jubiläum wurde das traditionelle Geschäft (mit der zur Weihnachtszeit fahrenden Eisenbahn) aufgegeben.

Anzeige Adressbuch 1908/09

In dem nächst stehenden Haus mit dem niedrigeren Giebel war viele Jahre die Firma Johann Harms (kurz J. H.) Cassens beheimatet, ein Begriff in Stadt und Land mit ihren Kolonial- und Gemischtwaren. Von der vorherigen Harenberg'schen Handlung 1891 übernommen, wurde die traditionelle Firma gleich nach dem letzten Krieg von Schwiegersohn Erich Neumann weitergeführt. In unseren Tagen war hier zeitweise eine Fotopoint Filiale, nach einem Umbau, ein Outdoor Shop untergekommen.

Markant setzt sich das darauffolgende schmale, mit dem hoch angesetzten Giebel errichtete Geschäftshaus an der Ecke zum Kattrepel in Szene. Schon viele Jahrzehnte wird hier "Mode" gemacht. Zur Zeit der Versendung der Ansichtskarte stand ein Wechsel bevor. Anfang 1903 eröffnete Bernhard Dettmers (heute Wübbenhorst) hier in Nachfolge von Amandus Frey sein "Spezialgeschäft für Herren- und Knabengarderoben." Erst 1908 wird er seine Firma in das noch heutige eigene Anwesen verlegen.

Nach der Einmündung zum Kattrepel erblicken wir den am hellsten getünchten Hausgiebel auf dieser Karte. Warscheinlich ist es sogar (im Jahre 1902) das älteste Haus der Straße. Der rechte untere, dunkel gehaltene Bereich, bildet eine mit Ölfarbe übermalte, steinerne Auslucht, in der zwei Fenster von drei plastisch hervortretenden Säulen flankiert wurden. Hier war viele Jahrzehnte ab 1849 der Silberschmied Carl Altona mit seinem Juwelierhandel ansässig. Später in den zwanziger Jahren bekam das Haus einen sehenswerten, mehrfach geschwungen und getreppten Giebel und mit Steinkugeln aufgesetzt. Leider musste dieses schmucke Haus 1948 dem auch in Klinkerbauweise errichteten Neubau von Kleinsteuber (später Elektro Harjes) weichen.

Jeversches Wochenblatt, Anzeige 1899

Wie auf der gegenüberliegenden Strassenseite krümmt sich hier der Zug der Häuser nach Südosten, einige Anwesen entziehen sich unserem Blickfeld. Nur eine Wüppe davorstehend ist gerade auszumachen. Allenfalls das überragende Dach des heutigen Hauses Dettmers mit dem "hellblau" kolorierten Ausbau ist gut erkennbar. Im Jahre 1899 wurde das Anwesen von der Familie Valk in Emden erworben, welche in der größten Stadt Ostfrieslands ein Warenhaus betrieb. Zu den Filialen in Aurich und Norden gesellte sich ab dem 2. Oktober eine Dritte in Jever. Beeindruckend der großstädtisch wirkende Namenszug auf dem Dachfirst. Dessen Geschäftsführer, Viktor Prag, sollte sich nach einer zehnjährigen Leitung dieser Filiale an anderer Stelle mit einem eigenen Geschäft niederlassen.

Schlussendlich blicken wir auf den uns völlig unbekannten und mit mehreren Vasen gezierten, längst entschwundenen Giebel eines als Handlung & Wirthsc[haft] kenntlich gemachten Hauses.
Mit einer umständlich formulierten Anzeige, wie anno dazumal üblich und heute schon wieder als originell empfunden, hat im Jahre 1858 der vierzigjährige Kaufmann Otto Bley, bisher in der Mühlenstraße tätig, auf seinen Wohnungswechsel im Jeverschen Wochenblatt hingewiesen:
"Ich wohne jetzt am alten Markt, Ecke von der Neuen Straße, in dem ehemals Brauerschen Hause, wo ich Handlung, Commissions=, Speditions= und Incasso=Geschäft wie in bisheriger unveränderter Weise, wie auch Schenkwirthschaft betreiben werde. O. Bley."

Diese bereits Anfang des 19. Jahrhunderts von dem Weinhändler Joachim Itzken Brauer geführte Schenkwirtschaft war neben dem Schwarzen Adler, dem Schütting und dem Bremer Schlüssel ein doppelt privilegierter Krug. Nur in diesen vier Häusern durfte Branntwein ausgegeben werden; In der Altstadt dagegen nur auf dem Rathaus, in dessen Wirtschaft.

Der Verkauf von Fetköters Lagerbier und Hefe wird zwischen den voll gestellten Fenstern auf der Hauswand bekannt gemacht. Verschiedene Besen, Spaten und sogar ein Tragejück stehen für einen Kauf bereit. Ein mögliches Emailleschild rechts vom Eingang wirbt augenscheinlich mit einem Getränk, eine Flasche ist zu erkennen. Das Schildchen für die Hausnummer über den Eingang ist auszumachen; die Nummer 294 aber nicht.

Auffällig nimmt man das Gefälle hinab in die Kaakstraße gewahr. Darum ist besonders in unseren Tagen das Seifenkistenfahren hier sehr beliebt. Mit dem Neubau von 1905, dem Geschäftshaus mit seinem markanten Eckturm, schufen sich Kaufmann Otto Bley junior, zusammen mit dem Architekten Theodor Eilers, ein immerwährendes Denkmal. Ein paar Jahre später teilten sich die Buchhandlung von Julius Behrens, eine Filiale des bekannten Hamburger Kaffeehandels Thams und Garfs und das Fahrzeughaus Rocker die Geschäftsräume. Auch wenn sich die verschiedensten Gewerbe in den späteren Jahrzehnten die Klinke in die Hände gaben, Kaffee wurde mit Unterbrechungen bis zum heutigen Tag immer angeboten. Und Medizin, wozu der schwarze "Hausfreund" im weitesten Sinn auch noch zählen darf, wird auch schon fast vierzig Jahre hier verabreicht.

Hinweisen möchte ich auf den Warenautomaten "Merkur" von Stollwerck an der linken Hausecke des alten Gebäudes. Diesem meist rot lackierten und reich verzierten Automaten konnten aus mehreren Fächern kleine Köstlichkeiten durch Münzeinwurf entlockt werden. Neben erfrischendem Pfefferminz gab es Schokoladiges oder etwas zum Knabbern. An mehreren Orten in unserer Stadt hat er einen Platz gefunden. Auch ein bekanntes Wässerchen aus der Stadt Köln war in einem der Fächer zu finden. Diesem hat Georg Schmidt in dem Historienkalender auf das Jahr 1977 ab Seite 78 einer bleibenden Jugenderinnerung gedacht.

Neue Straße, um 1902, vom Alten Markt aus gesehen, koloriert.
"Die herzl. Glückwünsche z. Geburtstage möchte ich dir senden, es freute mich zu erfahren, daß es dir dort wohl geht, hoffentlich kannst du demnächst gesund ...." Hier reißt der Text jäh ab.
Eine weitere, dritte Ansichtskarte aus meiner Sammlung, das kolorierte Gegenstück zu der o.a. schwarz-weißen ist arg vergewaltigt worden mit bestoßenen und beriebenen Rändern, beschnitten im unteren Textbereich. Zwar gab es für alle Kartengrössen zu jeder Zeit entsprechende Allben, jedoch wurden von weniger bemittelten Sammlern deren "Schätze" oft in selber und günstig gefertigten Mappen untergebracht. Das Motiv war meistens ausschlaggebend, der Begleittext oft unwichtig – konnte der Schere zum Opfer fallen.

Auffällig ist die spartanische Kolorierung gegenüber der überaus bunten oben gezeigten Ausführung. Zwar sind die Hausdächer in den gleichen verschiedenen Rottönen gehalten, aber nur das Bäumchen im Vordergrund hat ein paar gelbgrüne Tupfer noch abgekommen. Alles andere ist in einem beigen, eher schmutzigen Sepia gehalten; wohl auch ihrem Alter geschuldet. Und das, obwohl sie erst knapp zwei Jahrzehnte später, als ihr Pendant abgesendet wurde. Frau Ottilie Chemnitz, welche als Witwe in dem Neubau von Otto Bley junnior wohnte, hatte ihre Glückwünsche an E. Hanken auf Wangerooge adressiert. Das von Engelhard Hanken geführte Hotel lag an der Zedeliusstrasse.

Eigentlich wäre für diese recht schäbige Ansichtskarte kein Platz in meiner Sammlung gewesen. Nur der Umstand, dass sie mit drei zum Teil selteneren "Germania" Marken am 21.03.1920 versendet wurde, gab den Ausschlag zu dem Erwerb. Neben der fast immer geläufigen grünen Marke (5 Pfennige) und der nicht so häufig gefundenen in karminrosa (10 Pfennige) war diese zu meiner Überraschung noch mit der schwarzvioletten Marke (15 Pfennige) Karte frankiert worden. So werden aus ursprünglich hartgesottenen Kartensammlern (Philokartisten) mit der Zeit nebenher interessierte Briefmarkensammler (Philatelisten), welche sich für die umseitig befindlichen Postwertzeichen mit all ihren Eigentümlichkeiten erwärmen.

Wilke Krüger, im März 2018.

 

Quellen:
Postkarten und Foto: Sammlung W. Krüger
Anzeigen des Jeverschen Wochenblattes: 28.12.1910 (Paphusen), 20.11.1886 (Oetken), 29.09.1899 (Valk)
Annonce Cassens: Adressbuch Stadt Jever 1908/09
Repro: V. Bleck