Das Mitscherlich-Denkmal in
den Anlagen zu Jever
Ratlos zwischen Blech und Provisorium
Da steht der
bronzene Mann auf seinem Sockel und guckt ratlos in seine geöffnete
Hand oder darüber hinaus - seit seiner Wiederaufstellung am 7.
September 2006.
Vielleicht ist er entsetzt, dass er täglich zu seinen
Füßen auf abgestellte Autos gucken muss, die diesen
ungepflegten Straßenrest als
wilden Parkplatz eingenommen haben. Die erstarrte
Handbewegung
scheint darauf hinzudeuten. Dabei hat er bzw. sein bronzener
Vorgänger seinerzeit seit dem Jahre 1896 in einer schöneren
Parkanlage mit einer Grünfläche vor dem Sockel gestanden. Drum herum
damals ein gusseisernes Ziergitter - man konnte ihn in seiner Größe
wahrnehmen.
Heute
rasen die einen mit dem Fahrrad und dem Blick nach unten ganz dicht
an ihm vorbei, aufpassend, dass sie heile über den nächsten
Bordstein kommen. Die Autofahrer können auch
nicht richtig
hinsehen, da sie in
Millimeter-Rangiererei versuchen, aus dem dicht geparkten Gewirr ohne
Blechschaden herauszukommen.
Er erinnert sich vielleicht, dass
zu seiner Enthüllung vor 5 Jahren davon gesprochen wurde, dass die
Stadt gerne das Denkmal von dem Förderkreis übernehme:
"Wir verpflichten uns, das gesamte Areal zu hegen und zu
pflegen."
Oder er will gerade ansetzen und erklären, wer er
denn eigentlich ist, warum ein
Eilhard Mitscherlich hier steht, ein wenig mehr von sich preisgeben als
Name Geburts- und Todesdaten auf dem Schild an seinem Sockel - denn
eine Erklärung, dass er hier in
Jever in der Provinzialschule, dem späteren berühmten Gymnasium,
gelernt
hat, dass er Chemiker
geworden ist und ein Begründer der
Kristallographie wurde ... solch eine Erklärung findet sich nicht.
"Warum der hier steht, was
der mit
Jever zu tun hat? Das weiß ich nicht," sagte ein Besucher der Stadt zu
seiner
Tochter.
Da haben
jetzt Zeitgenossen ein Erbarmen gehabt und ihm endlich etwas in die
Hand
gegeben,
das vielleicht trösten kann.
Die
Flasche hat ja auch etwas mit Kristallen zu tun - aber...
Nein, genau wie sein Vorbild, welches
im
Garten der Humboldt-Universität in Berlin schon seit 1894
steht und genauso wie sein Vorgänger an diesem Ort zwischen 1896 bis
1954, sollte er eigentlich ein Objekt seiner Forschungen in
der Hand halten, einen großen Kalkspat-Rhomboeder (hier
natürlich aus
Bronze). Aber den hat man bei der Neuerstellung des Denkmals
vergessen. Dabei hat sich unter anderem mit diesem Kristall
das erforschen
und beweisen lassen, was eine wichtige Erkenntnis in der
Kristallographie bedeutete, nämlich die Isomorphie.
Es
ist nun schon so lange her, mit dem Vorgänger
hier, dass sich kaum einer an diesen Kristall
erinnern kann. Denn der seinerzeit von seinen Nachfahren
gestiftete erste Mitscherlich für Jever wurde schon nach wenigen
Jahrzehnten
ein Opfer der Korrosion (auch das ist Chemie). Er
wurde so
baufällig, dass er 1954 abgebaut werden musste. Der verwaiste
Sockel
stand dann noch bis 1963 und wurde durch einen großen Findling
ersetzt. Daran werden sich wohl wieder einige erinnern. Auf diesem Stein stand
zumindest, dass er ein großer Naturforscher gewesen war.
Der
Sockel hielt übrigens bis zu seinem Abbau noch eine kleine Überraschung
bereit: Unter der Podestplatte lag ein 800 Seiten dickes Buch,
die Gesammelten Werke des Chemikers - teilweise stark verrottet, aber
wie damals in der Zeitung stand: "Eilhard Mitscherlich hatte in Jever
also eine Ausgabe seiner "Gesammelten Werke" zu seinen Füßen liegen. Ob
aus diesem Grunde seine "Standfestigkeit" schon
nach rund 70 bis 80
Jahren nachgelassen hat, ist kaum anzunehmen. Sein Werk war immerhin
"standfest" genug, um als Grundlage für weitere Forschungen auch heute
noch zu dienen und zu gelten."
Dabei
brauchte
das mit dem Buch eigentlich keine Überraschung sein. Denn
Bücher lagen
und liegen ganz offen sichtbar hinter den Füßen
des
Chemikers. Nicht
nur im übertragenen Sinn hüten Bücher sein Wissen. Sie sorgen
auch ganz praktisch für die Standfestigkeit des Herrn Mitscherlich.
Denn der bronzene Koloss benötigt einen dritten Punkt der Befestigung,
damit er dauerhaft stabil steht.
Bleibt
noch eine Bemerkung zur Marke des
oben genannten Trostspenders. Eigentlich ein Unding, in dieser Stadt
eine andere Bier-Marke auch nur zu erwähnen. Aber vielleicht haben die
"Täter" tieferen Sinnes gehandelt - und so groß kann
der Schaden auch
nicht sein, denn hier wie dort gehören beide Marken zur Radeberger
Gruppe des Oetker-Konzerns.
Daten
zu Mitscherlich gibt es in ausreichender Menge im Internet: man suche
unter Mitscherlich, Mitscherlichdenkmal. Dennoch hier noch einmal in
geordneter Folge:
Am 7. Januar 1794 wurde Eilhard
Mitscherlich in dem jeverländischen Kirchspiel Neuende (heute:
Wilhelmshaven) geboren.
Mitscherlich ist durch bedeutende
wissenschaftliche Arbeiten insbesondere im Bereich der Chemie bekannt
geworden.
Nachdem er zunächst in Heidelberg zwei Jahre Sprachen und Geschichte
studierte, verließ er Deutschland und ging nach Paris, wo sich ihm die
Aussicht bot, als Mitglied der Gesandtschaft, die Napoleon 1. nach
Persien schicken wollte, teilzunehmen, um dort seine Sprachstudien
unmittelbar an der Quelle fortsetzen zu können.
Napoleons
Russlandfeldzug mit dem anschließenden Zusammenbruch des Kaiserreiches
begrub diese Hoffnungen. Weil er glaubte, als Arzt eine
größere Chance für eine Einreise nach
Persien zu erhalten, entschloss er sich zum Medizinstudium in
Göttingen. Im Physikum fesselten ihn jedoch alsbald die chemischen
Forschungen, so dass er das Sprach- und Medizinstudium aufgab.
Ab
1819
arbeitete er in den Laboratorien von Botanikern und Mineralogen in
Berlin. Ihm gelangen die ersten selbständigen Forschungsergebnisse.
Mehrere Jahre war er Assistent des damals bedeutenden schwedischen
Chemikers Berzelius in Stockholm, bis seine Leistungen durch die
Berufung zum Ordinarius an der Universität Berlin gekrönt wurden. Bis
zu seinem Tode am 28. August 1863 konnte er dort erfolgreich wirken.
Erfindungen/Arbeiten:
Gesetz der
Isomorphie
(Gestaltgleichheit von
Kristallformen),
Entstehung des Dimorphismus (verschiedene
Formen eines
Körpers),
Verbesserung des Goniometers,
Theorie
der
Ausschmelzung des Kupfers;
Entstehung der Erzgänge.
Herkunft der Mineralquellen, vulkanische Vorgänge,
Umwandeln
der
Gesteine durch erhöhte Temperatur,
Entdeckung der
Selensäure,
Aufklärung der Natur der Übermangansäure,
Einfaches
Verfahren zum
Nachweis von Phosphor,
Untersuchung über das Benzin und
seine
Verbindungen (Mitscherlich verwendet als erster das Wort "Benzin"),
Erstellung
von Nitrobenzol,
Azobenzol und
Benzolsulfursäure.
Die Universität Berlin
ehrte Eilhard
Mitscherlich am 1. Dezember 1894 mit einem 2,60 m hohen Bronzestandbild
auf einem 2 m hohen Sockel im
Universitätsgarten ("Kastanienwäldchen hinter der Universität"), ein
Werk von Prof. Hartzer.
Eine Kerngalvano-Kopie dieser Statue wurde der Stadt Jever durch die
Nachkommen Mitscherlichs geschenkt und in den Wallanlagen an der St.
Annen-Straße am 28. Mai 1896 enthüllt (Sockel von den Bildhauern
Hülskötter und Müller, durch die Stadt bezahlt).
Kupfer, Gips und
Eisen - eine für die Aufstellung im Freien nicht lange haltbare
Konstruktion.
Im März 1954 musste die Statue
wegen Zerfalls beseitigt werden.
Nachdem der leere Sockel dort mehrere
Jahre sein Dasein fristete, wurde 1963 zum 100. Todestag
des Chemikers
ein großer Findling an gleicher
Stelle mit den Lebensdaten Mitscherlichs aufgestellt.
Verschiedene Anläufe, das alte Denkmal zu reparieren und wieder
aufzustellen scheiterten. Einzig Kopf und rechte Hand des
Denkmals
waren erhalten
geblieben und machten eine lange Reise mit einem ungarischen
Bildhauer, der letztlich mit der Neuerstellung nicht zurande kam.
Heute sind beide Teile nach längeren Auseinandersetzungen ins
Schlossmuseum Jever zurückgekehrt. 2006
konnten durch einen engagierten
Förderkreis genügend Gelder zusammengebracht werden, die einen Neuguss
des Standbildes durch die Gießerei GZUT im polnischen Gliwice /Gleiwitz
unter Verwendung eines Abdruckes von dem Original in Berlin
ermöglichten.
Der alte Sockel wurde im Betrieb Hülskötter noch
aufbewahrt
und konnte wiederverwendet werden. So steht seit dem 7. September 2006
das
Standbild Eilhard Mitscherlichs wieder - nur wenige Meter neben dem
ursprünglichen Standort.
Anmerkungen zum Standort:
Mit der „Entfestigung" zwischen
1806 und 1848 haben sich die Flächen
der alten
Verteidigungsanlage aus
Wassergraben und Erdwall rund um die
Altstadt erheblich verändert.
Die Wälle wurden abgetragen, große Teile des Wassergrabens wurden
zugeschüttet, es wurde ein Park mit Beeten und Wegen als
„öffentliche Promenade" angelegt. In diese Parkanlage wurden über die
Zeit einzelne
Denkmale gestellt (Kriegerdenkmale zu 1871, WK 1
und WK 2, Schlosser-Denkmal 1878, Mitscherlich-Denkmal
1896, Frl.-Marien-Denkmal 1900, Schiller-Linde mit gußeisenem
Gitter und Medaille 1905).
Heute stehen die Bereiche der ehemaligen Verteidigungsanlagen als
gesamtes Bauwerk und als gestaltete Parkanlage unter Denkmalschutz
(!!?).
Besonders durch die heutigen Verkehrsansprüche wurden und werden die
Bereiche dieses grünen Gürtels um die Altstadt aber weiterhin verändert
und beschnitten. Das Mitscherlich-Denkmal wurde seinerzeit so plaziert,
dass es in gebührendem Abstand von der St.-Annenstraße (als
Reichsstraße 210), die damals noch geradlinig aus der Stadtmitte
in Richtung Wittmund verlief, betrachtet werden konnte. Ab
1943 führte die Reichsstraße um die Altstadt über das neuerstellte
von-Thünen- und Elisabethufer. Damit zeigte Mitscherlich
dieser Straße den Rücken. Spätestens mit dem neuen abknickenden
Anschluss der
St.-Annenstraße an das Elisabethufer in den 1980iger Jahren wurde der
Standort von der übrigen Parkanlage vollständig abgeschnitten und
verwaiste als kleine Rasen- und Buschfläche mit dem
Findling. Seit 1995 ist der alte Verlauf der
St.-Annen-Straße durch das
Pflanzenbeet mit den Ausstellungsstücken des nahen Steinmetzbetriebes
abgehängt und der restliche Straßenverlauf wird als
Stellplatz genutzt.
Eigentlich wäre es
konsequent, wenn die nicht mehr
benötigten Reste der alten Straßenführung soweit wie möglich der
"Promenaden-Fläche"
zurückgegeben
werden.
Der Standort für das
2006 neu
errichtete Mitscherlich-Denkmal wurde um einige Meter vorgezogen, da
ein Anschluss an die Karl-Jaspers-Anlagen sinnvoll erschien und eine
Neugestaltung des Umfeldes in Aussicht gestellt wurde. Aber letztlich
wurde der Bereich dort als
Park-Platz für Autos für wichtiger erachtet.
Dabei
hat gerade dieser Bereich der ehemaligen Wallanlage noch einiges mehr
für Stadtbildpflege, Geschichte und Tourismus zu bieten: Hier befand
sich das St.-Annen-Tor als Haupttor der Stadt für den Landweg über die
Geest nach
Süden (Oldenburg) mit breitem Wassergraben und doppelter
Zugbrücke. Namensgeber für die St.-Annenstraße war die
St.-Annen-Kapelle auf dem Friedhof vor dem Stadttor. Blieb bisher
wenigstens eine Sichtverbindung bzw.- achse zwischen Kapelle, Straße
und Stadtkirche, wurde diese durch „Hermann, der Handwerker",
der
keinerlei
geschichtlichen Bezug zu Jever hat, und die
"Steinmetz-Ausstellung" unterbrochen. Die alte Torsituation
ist nur noch an wenigen höheren
Bäumen erkennbar.
Das
nebenstehende Bild des Stadtmodells, welches vor über 100 Jahren nach
dem Stadtplan von 1768 erstellt wurde, zeigt über dem St.-Annentor
durch den Stadtwall eine Windmühle. Diese stand seinerzeit dort aber
nur wenige Jahre. In Höhe dieses Tores steht heute das
Mitscherlichdenkmal. Mit der Erde des Stadtwalles wurden die
Verteidigungsgräben zugeschüttet. Nur die 4 einzelnen Graften als
Parkgewässer zeugen noch von dieser Zeit.
Quellen:
Jeversches
Wochenblatt, 26.3.1954
Jeversches
Wochenblatt, 1.4.1954
Jeversches
Wochenblatt, Juli 1963, Foto H. Rase
Jeversches Wochenblatt 24.9.
2005, Foto C. Luers
Jeversches Wochenblatt 10.7.1991
Nordwest-Zeitung 8.9.
2006
Jeversches Wochenblatt 8.9.2006
Nordwest-Zeitung
04.04.2011
Friedrich Orth, Die Straßen der
Stadt Jever. Jever 1985
Karl Peters, Eilhard
Mitscherlich und sein Geschlecht. Jever, Mettcker, 1951
Fritz Strahlmann, Führer durch
Jever und Umgebung. Oldenburg 1930
V. Bleck, März 2011
Ps.
Nur zwei Wochen war dem Mitscherlich die Flasche gewährt
worden.
Nach einer kleinen Bemerkung in der Nordwest-Zeitung Anfang April 2011 stellte der Baubetriebshof
der Stadt den vorherigen Zustand wieder her.