Uns Kark

In schlimmen und guten Tagen.

 Vor 60 Jahren am 1. Oktober war den Jeveranern die Herbstzeit wie im Hochsommer erschienen. Eine Cousine meiner Mutter war fast jeden Tag nach Schule und Hausaufgaben an den Strand nach Schillig geradelt. Das war schon eine Ecke hin. Aber gemeinsam mit den Freundinnen zu schaffen. Damals gab es auch noch „hitzefrei“ an den Schulen. Da die Jeveraner noch kein Freibad besaßen, kam es fast gelegen, Jevers größten Raum, nämlich unsere Stadtkirche, zum Badehaus umzuwidmen. Als Dokument – dieses historische Foto! Einfach die Türen geschlossen und dann das feuchte Nass ... hinein damit. Leider bleibt dieser komische Aspekt uns aber im Hals stecken.

1959
Der Wasserdruck reichte nicht aus © Edith Zucht

Denn pure Verzweifelung herrschte an diesem ersten Oktober 1959 über der Stadt. Mit dem Ausruf „Die Kirche brennt!“ eilte alles zum Kirchplatz. Unsere Freiwillige Feuerwehr kam in ihrer bisher 76jährigen Geschichte, in der viele Brände erfolgreich bewältigt wurden, beim Bekämpfen eines Großfeuers „in Jevers guter Stube“ - der Stadtkirche - an ihre Grenzen. Die wasserführenden Graften, welche die Stadt einem Gürtel gleich umziehen, waren fast völlig ausgetrocknet, der Wasserdruck in den Hydranten in der ersten (entscheidenen) Stunde nur mäßig vorhanden. So konnte der gerade erst mit Holzschutzmitteln getränkte Dachstuhl anfänglich von keinem Wasserstrahl erreicht werden. Keiner war auf solch einen Ernstfall damals vorbereitet. Wertvolle Minuten verstrichen. Eine Drehleiter, welche Jevers Feuerwehrleute heute wertvolle Hilfe bei ihren Einsätzen leistet, lag damals noch in weiter Ferne.
Mit überlangen hölzernen Leitern mussten die Schläuche mühselig in Dachstuhlhöhe getragen werden und konnten doch nur spärlich das rettende Nass in die Urgewalt des Feuers befördern.

Um 16:48 Uhr stürzte mit schrecklichem Krachen das hölzerne Gewölbe ins Kirchenschiff, wo das Feuer gerade in dem Gotteshaus aus der Barockzeit reichlich Nahrung fand. Da erst wird manchem kunstsinnigen Einwohner bewusst gewesen sein, was wir verlieren werden. Eine Ausstattung an kirchlichen Kunstwerken, die ihresgleichen suchte. Eine Orgel, hochgerühmt im ganzen Oldenburger Land, seinerzeit nach fünfjähriger Bauzeit vollendet; eine Kanzel, ganz aus Eichenholz gefertigt im fernen Stettin, sie kam auf dem Seeweg nach Jever; der Altar mit vortrefflichen figürlichem Schnitzwerk in barocker Pracht, der Kirche gestiftet; ebenso die acht Kronleuchter, jeder als ein Unikat gefertigt. Dazu das geschnitzte Gestühl mit den durchbrochenen Füllungen, der festlich auf Säulen getragene Fürstenstuhl mit der Lakaiengalerie... Das alles begann jetzt in der heißen Glut dieses furchtbaren Brandes hernieder zu sinken.

„Du musst Dir das mal vorstellen. Ein Knacken und Brausen vor dir. Schaust direkt in eine Hölle, die du auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen später nicht mehr siehst“, berichtete mir einst Edith Zucht, die aus einen oberen Fenster ihres Hauses am „Neuen Markt“, so gegen sechs Uhr abends, dieses Bild schoss. „Dann dabei noch ruhig und gelassen bleiben, deine Bilder fertigen. Das will erst einmal gelernt sein", so die Fotografenmeisterin. Dazu kam noch die ungeheure Wut, erzählte mir ein anderes Mal der Ehemann Wilfried Zucht, der bedauerte, nicht genug Bilder in der Kirche gemacht zu haben. Er hat an dem Tag versucht, aus allen Perspektiven den gewaltigen Brand zu dokumentieren.
Kanzel
Filigranes, in organisch anmutenden Formen durchbrochenes Schnitzwerk, war vielerorts in der alten Stadtkirche auszumachen. © Grete Krüger

Was hätte man nicht noch alles von der alten Stadtkirche im Bild festhalten können! Er greift hinter sich in einen hölzernen Kasten und holt ein Bild von einer fantastischen Holzschnitzarbeit hervor. Viel filigranes in organisch anmutenden Formen durchbrochenes Schnitzwerk. „Toll“, meinte ich, „aber das kann nicht in der Kirche gewesen sein, oder?“. „Weil wir nicht hingeschaut haben“, grinste mich der von Freunden und Kollegen auch genannte „Ackermann“ an. Diese Füllung saß ziemlich versteckt unter den Emporen. Nur eine Zierwand vor dem nackten Mauerwerk bildend, lag diese meist im Halbdunkel und im Südschiff nur zur Mittagszeit von spärlichem Sonnenlicht durchdrungen. Diesen Zeitpunkt hatte der Fotograph Albin Freytag, der vor der Familie Rademacher-Zucht hier ansässig war, abgepasst, um dieses Bild zu fertigen.

„Und wenn du das weißt und die Hölle da erblicken musstest, kannst du noch heute verrückt werden", meinte Wilfried Zucht resignierend. Von da an betrachtete ich die Bilder meiner eigenen Sammlung genauer. Sah vieles, was ich vorher nicht bemerkte, zum Beispiel die schönen Treppengeländer oder die durchbrochenen Füllungen oberhalb des Gestühls. Gut auf dem nebenstehenden Bild in Umgebung der „Stettiner Kanzel“ auszumachen.

So eine Kirche bekommen wir nicht wieder. Das war den Jeveranern nach dem Brand schmerzlich bewusst geworden. Ein Neubau in den alten Formen, ja. Mit einer gediegenen, schönen Ausstattung, ja. Das wollten die Einwohner der Stadt. Nicht aber so der Oberkirchenrat in Oldenburg. Die Jeveraner konnten nicht mehr wie früher beim Bau der alten Kirche allein entscheiden. Die Geldmittel kamen aus Oldenburg. Jever wurde zwar ein Mitspracherecht eingeräumt. Den Architekten des Neubaus, Dieter Oesterlen aus Hannover, bestimmte aber Oldenburg. Er hat die gegenwärtige Kirche entworfen und den Neubau geleitet. 1964 wurde sie der Öffentlichkeit in einem Festgottesdienst übergeben.

Viel Kopfschütteln hat der Neubau erleben müssen. „In einen solch geschichtsträchtigen Ort wie Jever so einen Bau zu stellen..." Unser plattdeutscher Dichter Oswald Andrae soll den Ausdruck von „Uns Herrgott sien Silo“ geprägt haben. So kann man es sehen. Irgendwann begannen die Einwohner sich aber mit der Architektur ihrer Stadtkirche abzufinden. Eine Bekannte, welche noch in den Achtzigern kein gutes Wort für diese „schrecklichen Fenster“ finden wollte, meinte erst vor kurzen, wie schön doch das Licht farbig in die Kirche kommt. Hochgelobt wird inzwischen von jedermann die hervorragende Akustik, welche bei Konzerten mit der herrlichen Führer-Orgel und anderen Instrumenten eine wunderbare Stimmung erzeugt. Immer wieder als ein Erlebnis erweist sich den Besuchern aber die Begegnung mir dem „Edo-Wiemken-Denkmal“, welches aus dem Zwischenbau und auch aus dem Kirchenraum heraus gesehen werden kann.
Bis in das Jahr 1891 konnten die Besucher der Kirche das Denkmal sogar noch hinter dem Altar sehen. Erst dann wurde die stabile Brandmauer hochgezogen, welche das Kunstwerk zwar den interessierten Augen entzog, die wir aber 1959 zu schätzen gewusst haben.

Schon haben wir die „neue“ Stadtkirche wieder länger als fünfzig Jahre in unserer Mitte stehen. Wir haben uns an sie gewöhnt. An die großzügig mit Beinfreiheit bemessenen Bankreihen - anstatt eines Kastengestühls. Auch an die Nüchternheit der erhabenen Steinwände mit dem großen Altarkreuz und einem hölzernen Kasten als Kanzel. Seit ein paar Jahren bringt ein im Kindergarten gefertigter Altar im wuchtigen Baukastenformat mit handgefertigten Puppen von Menschen und Tieren ein wenig mehr Farbe in den Kirchenraum. Das wissen wir zu schätzen.

Wilke Krüger, Oktober 2019