Ein Erinnerungsfragment in Jever
Jever und das Land umher hat in den letzten 200 Jahren eine Entwicklung durchlaufen, wie nie zuvor. Das unterscheidet diesen Landstrich zwar nicht von fast allen anderen Teilen Mitteleuropas, vielleicht sogar der Erde. Aber wir leben nun mal hier und darum liegt der Blick auf das hiesige Gebiet.
Nach einer jahrhundertelangen Ausformung von einer bäuerlichen Selbstversorgung zu einer Gesellschaft mit spezielleren Berufen (Handwerker, Händler, Schiffer usw.), konzentriert an einigen Orten wie Hooksiel, Jever und einigen heute größeren Ansiedlungen, wirkte die technische Entwicklung aus den damaligen Metropolen auch ins Jeverland.
Die Technik zu hartgebrannten Klinkern ermöglichte den Straßenbau ab etwa 1840, die Eisenbahn Oldenburg bis Heppens (WHV gab es noch nicht) fuhr ab 1867. Infolge des Personal- und Baustoffbedarfs des Kriegshafenbaus, des späteren Wilhelmshavens, wurden weitere Gleise gelegt. Der Anschluss nach Jever wurde am 15.10.1871 eröffnet. Für Jever hatte das positive wirtschaftliche Folgen. Der seit langer Zeit bestehende Viehmarkt blühte auf und versorgte die Nation. Die Molkerei der Gebrüder Groh ab 1897 in Jever, später auch in Tettens, nutzte den Zug für Sonderlieferung ihrer Produkte nach Berlin. Die Zunahme der Personen-und Lastkraftwagen ermöglichte Transport zu jeder Jahreszeit.
In großen Schritten "entwickelte" sich Stadt und Land - wie überall: Auf Kosten der Natur und des Weltklimas. Das interessierte aber (noch) niemanden.
Der Tidezug nach Harle kreuzt zwischen Jever und Wiefels die Bundesstraße nach Wittmund am 12.09.1987.
© Foto: Torsten Oekermann Der hintere Teil des letzten Wagens befindet sich noch auf der Brücke über das Mühlentief - wenige Meter entfernt vom Orte des heutigen Gleisdenkmals. |
Die Tidebahn, der Eisenbahnabschnitt Jever bis Harlesiel, war seinerzeit eine Errungenschaft bis 1989, an die hier erinnert wird.
Der Eisenbahnanschluss bis Jever wurde ab 1883 über Wittmund, Esens bis nach Norden verlängert und fand Anschluss an die dortige Hauptstrecke bis ins Ruhrgebiet. Am 1. August 1888 wurde die Tidebahn eröffnet, ein Abzweig von Jever in einer Schleife durch das Jeverland bis zum damaligen Endpunkt Friedrichschleuse. Wenige hundert Meter bis zum Hafen Harlesiel fehlten noch. Das lag daran, dass das oldenburgische Staatsgebiet hier endete. Verhandlungen mit Preußen ermöglichten den Weiterbau, so dass am 1. Juli 1890 die Gleise bis "ins Wasser" führten.
Aus militärischen Gründen wurde vom Bahnhof Hohenkirchen bis Schillig ein
Zweiggleis gelegt, das von 2. März 1915 bis zum 27. August 1949 existierte und auch zu privatwirtschaftlichen Zwecken genutzt wurde.
Aber Staat und Industrie förderten die wirtschaftliche Entwicklung zum Individualverkehr. Lastkraft- und Personenwagen sorgten für mangelnde Auslastungen bei der Bahn. Streckenabschnitte und Gleisanbindungen von Firmen wurden stillgelegt (siehe Varel-Rodenkirche, Bockhorn, Ellenserdamm, Esens-Norden ab 1983 usw.) Genaueres im Buch von Peter Löffler 'Die Eisenbahn in Oldenburg'.
Der Streckenabbau machte auch vor der Tidebahn nicht halt. Am 27.9.1987 fuhr der letzte Personentriebwagen, ab 1989 wurde der Güterverkehr eingestellt und die Gleise wurden beseitigt.
Mit der Beseitigung dieser Bahnstrecke wurde für Jever die lang ersehnte Bebauung des "Gleisdreieckes", des heutigen Normannenviertels möglich. Eine Zufahrt konnte jetzt ohne teure und mittlerweile überall geforderte Brückenbauwerke für die Verkehrsanbindung zu benachbarten Wohngebieten Dannhalmsweg und Hammerschmidtstraße geschaffen werden. Aber angesichts der damals noch existierenden Bundesstraße 210 und der ersten Gedanken an eine Verkehrsberuhigung in den angesprochenen Straßen wurde die etwas 'verrenkte' Zufahrt von der Bundesstraße vor der Abzweigung nach Wiefels, wo dort auch die Brücke über das Mühlentief ist, erforderlich. Ein breiter Grüngürtel - natürlich eine 'Dienstleistung' der Stadt - sollte das Neubaugebiet von der freien Marschenlandschaft abschirmen. So entstanden für die Stadt große Flächen mit viel Arbeit: Bepflanzung und Pflege. Erstere wurde von mir geplant und u.a. durch einen "Tag des Baumes" mit Anliegern, der Jägerschaft und weiteren Interessierten um 1996/7 durchgeführt.
Auf der ehemaligen Trasse der Tidebahn finden sich die Mühlentiefbrücke, das Gleisdenkmal und hinten der Radweg
© Foto: Achim Bartoschek (ca. 2000) |
Am Beginn des Radweges Tidebahn auf der gegenüberliegenden Seite der Normannenstraße wurde für das kreisweite Radwegeprogramm eine Informationstafel aufgestellt, die neben der Kartenseite auch Infos über die Stadt bietet. Hier ließ sich eine Erläuterung zur Tidebahn einfügen. Durch Vandalismus oft beschädigt musste diese Information lange Zeit ohne den begleitenden historischen Streckenplan auskommen. Ich hoffe, dass dieser Mangel bald behoben wird.
Warum komme ich jetzt darauf, dieses Gleisfragment zu beschreiben? Ich sehe es fast täglich auf der Fahrt nach Jever. Und ich sehe auch das seit Jahrzehnten lagernden Gleisstück in Wiefels, welches wohl mit einem Schrankenarm zu einem Erinnerungsstück durch die dortige Dorfgemeinschaft gestaltet werden sollte. Eine Zeit lang lag dabei auch eine Radachse für ein Schmalspurgleis. Mittlerweile eingewachsen in ein großes Weidengebüsch fällt es kaum auf. Dieses wohl ehemalige Vorhaben endlich fertigzustellen steht aber nicht auf der Tagesordnung. Auch das Angebot, die zweite, bisher ungenutzte und noch vorhandene Radachse des jeverschen Projektes zur Verfügung zu stellen, ermunterte dort niemanden.
Ein zweiter Grund liegt in der Teilnahme beim Projekt KLEKS, 'Spurensuche Niedersachsen Digital', welches ein 'KulturLandschaftsElementeKataster' neben den offiziellen Denkmalschutz-Datenbanken aufstellt. Solch ein 'KulturLandschaftsElement' ist aus meiner Sicht der Standort des Gleisfragmentes im Zusammenhang mit der alten Gleisbrücke und der ehemaligen Bahntrasse.
Bei der Suche nach älteren Bilder und Texten zum Gleisdenkmal ist mir mein Schreiben aus dem Jahre 2003 in die Hände gekommen. Als Zuständiger für die Grünplanung in der Stadt hat mich damals ein Jugendlicher (Neu?)Anwohner aus dem sich längs der Normannenstraße ausbreitenden Neubaugebiet per e-Mail angeschrieben. Er fragte nach dem Sinn dieses Eisenhaufens und führte an, dass der Schotter Kinder geradezu einladen würde, diese auf die vorbeifahrenden Autos zu werfen. Auch könne die rollende Achse zu schrecklichen Verletzungen führen. Diese E-Mail liegt leider nicht mehr vor. An die in meiner Antwort angesprochene zweite Frage kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ihre Email vom 14.09.03: Gleisfragment zur Tidebahn, Normannenstraße
Sehr geehrter Herr ..,
eine eindeutige Antwort auf Fragen zu einem Denkmal zu geben, würde sicherlich den Sinn dieses Denkmals einschränken. Ein Ziel ist, Denkprozesse bei den Betrachtern anzustoßen. Verschiedene Menschen werden sicherlich auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Und da ein Denkmal im öffentlichen Raum einer Gemeinde aufgestellt ist, sollten dabei auch die Gedanken beim Hineinversetzen in die (möglichen) Gedanken anderer nicht zu kurz kommen.
Einige Ausführungen zum "Gleisfragment": 1989 wurde die Bahnstrecke zwischen Jever und Harlesiel nach 99jährigem Betrieb abgebaut. Eigentlich in einer Zeit, in der die meisten Menschen aufgrund der Diskussionen um Umweltschutz die Bahn als ideales Verkehrsmittel ansahen - leider ohne dabei selbst die Bahn zu nutzen. Bedeutung hatte die Bahn für die wirtschaftliche Entwicklung des Jever- und Wangerlandes und für den Badebetrieb auf Wangerooge - individueller Autoverkehr ist ja erst mit dem darauf aufbauenden Wohlstand ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts möglich geworden.
Die Bahn war aber auch mehr: Viele ältere Bewohner können noch erzählen, wie sie durch die Bahnverbindung überhaupt erst die Möglichkeit zu einem Schulbesuch auf den höheren Schulen in Jever hatten. Denn ein Zimmer "in der Stadt" war für die meisten finanziell überhaupt nicht möglich. So verbinden sich Bildungsmöglichkeiten und Geschichten von halsbrecherischen Mitfahrten auf dem Güterzug bis nach Horumersiel. Auch solche Aspekte sind Bestandteil von Heimat, Geschichte und von regionaler Kultur.
Wir leben heute in einer sehr schnelllebigen Zeit; was nicht fass- und begreifbar ist, wird nur allzu schnell vergessen. Noch schlimmer wird es, wenn jegliches Handeln nur noch unter dem ökonomischen Blickwinkel gesehen wird; dann wäre unser Land, unsere Gemeinde gesichtslos, beliebig austauschbar und hätte keinen Wohnwert mehr.
Denkmäler und andere Gestaltungselemente sind daher nicht für Touristen da, sondern für die Menschen vor Ort. Wenn dazu andere Menschen unsere Stadt aufgrund solcher "Bereicherungen" liebenswert finden, hier ihren Urlaub verbringen und dadurch vielen Bürgern auch eine wirtschaftliche Basis ermöglichen, so ist das ein wichtiger Begleiteffekt.
1997 haben wir bei den damaligen Bewohnern des "Gleisdreiecks" eine Umfrage zu einem "Gleisdenkmal" gemacht. Von den damals 39 bereits dort Wohnenden haben sich 19 überhaupt wieder gemeldet, dabei nur einer mit konsequenter Ablehnung des Projektes.
Dieses "Gleisfragment" wurde gemäß Ratsbeschluss von 1998 " zur Bereicherung des Stadt- und Landschaftsbildes und Erinnerung an den Tidezug" installiert. Gekostet hat es zwei Tage "Gleisbau" des Bauhofes. Schienen, Schwellen und Achse sind Geschenke der Firmen, die an der Renovierung der Bahnstrecke Sande - Esens vor 4 Jahren beteiligt waren.
Was bleibt, sind die Kosten für die Pflege. Wäre es Rasen geworden, hätte das Mähen dieses Bereiches bis heute ein Mehrfaches gekostet.
Bahngleise liegen auf einem Schotterbeet - scharfkantige Steine aus guten Grund. Damit muss jeder, der es will, seine Erfahrungen machen. Gefährlich sind hier aber nicht die Steine, sondern die möglichen Werfer. Steine gibt es überall - sie zu verbannen, müsste auch die Beseitigung von fast allen anderen "gefährlichen" Gegenständen wie Messern und Fahrrädern, von Einrichtungen wie Straßen und Stromversorgung zur Folge haben.
Wichtiger als das "Abschirmen" der Kinder vor der Umwelt erscheint mir daher das verantwortungsvolle Heranführen von Kindern und Jugendlichen an die "Umwelt" durch einsichtige Erwachsenen und Jugendliche. Dann würde auch die Absperrung am Mühlentief nicht immer wieder von den einen sinnlos kaputtgeschlagen und damit für die anderen zur Gefahrenstelle.
Auch wenn die öffentliche Verwaltung gern gescholten wird, in Anspruch wird sie dennoch von allen und jederzeit genommen. Wer sonst ist für allgemeine Güter zuständig? Trotz aller Proklamationen der "privaten" Verantwortung wird darin offensichtlich nur die Nutzung der Vorteile und Rechte verstanden, die Pflichten überlässt man dabei der "Gemeinschaft". Selber Handeln ist daher eher angebracht als pauschale Meckerei. Insbesondere für die vielen Aufgaben der Zukunft.
Hier ist die sorgsame Pflege der kulturellen Umwelt besonders wichtig. Und jahrtausendealt ist die Weisheit, dass man "mit sichtbaren Zeichen für die Zukunft über das Gewesene Zeugnis ablegen soll" (Perikles).
Ist Ihnen bewusst gewesen, das Sie Ihre Gedanken und Fragen zum "Gleisfragment" am 14. September geschrieben haben, dem "Tag des offenen Denkmals", der in diesem Sinne sicherlich bei vielen spurlos vorübergegangen ist?
So kann ich auch Ihre 2. Frage nur dahingehende beantworten: Na hoffentlich!
Und vielleicht sollten Sie sich das "Gleisfragment" mal aus der Nähe angucken, dann beantworten sich auch andere Fragen. Sie dürfen aber uns selbstverständlich auch weitere Fragen stellen.
Mit freundlichen Grüßen
Über zwei Jahrzehnte später im März 2024. Nur das Gehölz verändert sich. Bereits mehrmals wurde es zurückgeschnitten.
© Foto: Volker Bleck |
Quellen:
Löffler, Peter: Die Eisenbahn in Oldenburg. 1999, S. 43ff, 50ff, 76ff
Menke, Werner: Denkmäler in Jever, 2008, S. 30/31
Topograph. Karte 1955
Bebauungspläne der Stadt Jever
© Foto: Torsten Oekermann
© Foto: Achim Bartoschek
© Foto: Volker Bleck
Heimatbund Niedersachsen KLEKS
siehe auch:
http://www.kuestenbahn.de/harle/
https://www.laenderbahn.info/bahnlinien/18881890-jever-carolinensiel-harle/
https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Jever%E2%80%93Harle
https://www.wikiwand.com/de/Bahnstrecke_Jever%E2%80%93Harle
https://friesenblog.com/friesland/vor-25-jahren-schluss-fur-die-tidebahn/
https://www.westbahn.de/strecken-stationen/ostfriesische-kuestenbahn/index.html
http://www.bahntrassenradeln.de/details/ni1_04.htm
https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/piresolver?id=35669977
https://bf-ij.zielbahnhof.de/jever.htm
https://assets.static-bahn.de/dam/jcr:20368203-b469-4fc5-bc85- 6566ea6bd0bd/MDB74218-grossherzogl_oldenburgische_eisenbahn.pdf
zusammengestellt
V. Bleck März 2024 + Ergänzungen
Die ehemalige Kreuzung von Bahntrasse, Mühlentief und Straßen © Foto: Stadt Jever 2011 |
Der Streckenverlauf zwischen Jever und Harlesiel an der Nordsee. Östlich führend das zeitweilige Militärgleis (Kartengrundlage von vor 1940)
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Für Spezialisten: der Bebauungsplan Nr. 60 vom Oktober 1995 für das 'Gleisdreieck', Ausschnitt ca. wie obiges Luftbild, mit den Festsetzungen für Baugrundstücke, Rohr- und Kabeltrassen, Pflanzflächen etc. |
Der Streckenverlauf zwischen Jever und Harlesiel an der Nordsee. Östlich führend das zeitweilige Militärgleis (Markiert in der Topographischen Karte von 1955).
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Meldung des Jeverschen Wochenblattes kurz vor der Fertigstellung meines Berichts über das Gleisfragment
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Die angekündigten Schautafeln wurden mit "großem Bahnhof" am 27. August 2024 enthüllt.
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