Verschwunden! Das Haus mit den eisernen Ringen

Einmal mehr – Veränderungen im jeverschen Stadtbild.

Am 21. und 22. März beraubte eine Geräuschkulisse von einstürzendem Mauerwerk die Bewohner unserer kleinen Metropole – ein wenig nur – ihrer Aufmerksamkeit. In der Jeverschen Altstadt mussten wieder einmal zwei ältere Gebäude der Spitzhacke, vielmehr der kraftvollen Schaufel eines Baggers weichen.

1972 - Bestandsaufnahme für die Altstadtsanierung

Anhand der bisher hier uns verloren gegangenen und historischen Bausubstanz gehören die beiden Häuser zu den uninteressanteren Gebäuden. Mit keiner beeindruckenden Geschichte behaftet, noch wegen ihrer Baulichkeit, irgendwie erinnerungswürdig.

Allein ihr Alter war zumindest dem östlicheren Haus, Drostenstraße 1, anzusehen. Eine kunstvoll in Holz gefertigte Haustür mit einem Oberlicht in kräftig ausgebildeter Zarge gab der Straße ein besonderes Gepräge. Ein Holztor daneben war in seiner (uneinsichtigen) Konstruktion bemerkenswert. Besonders, weil die anderen und viel bemerkenswerteren Häuser an dieser Straße fast sämtlich der "Altstadtsanierung" in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zum Opfer fielen. Nachdem am 30. Juni 1998 das Platzgebäude an der Ecke zum Wall (siehe Kiekebushörn) abgebrochen war und daraufhin noch das dahinterstehende, letzte alte Anwesen der nördlichen Häuserreihe am 21. November 2002 weichen mußte, sollte viele Jahre wieder Ruhe in diese alte Strasse einkehren. 

Erst mit dem Verkauf der alten Pastorei an der Ecke zur Steinstraße (Kindergarten) und dem kleineren Haus dahinter an  der Drostenstraße in private Hände war der Weg frei geworden für den Abbruch des schon dem äußerlichen Verfall preisgegebenen, leerstehenden Hauses.
Ursprünglich gab es noch ganz andere Pläne. Von den damals zu gleichen Teilen besitzenden vorherigen Eigentümererinnen hatte die evangelische Kirchengemeinde das Anwesen im Jahre 2002 erwerben können – für eine vorauszusehende Erweiterung des Kindergartens.

Die Warf und ein älteres daraufstehendes Haus an der Ecke zur Steinstraße waren ursprünglich von dem Ratsherren Eilert Taden († 1686) der jeversche Kirche vermacht worden. Zum Archidiakonat bestimmt war hier fortan die Dienstwohnung der Pastoren eingerichtet. Das heutige Gebäude, nach einem Entwurf des Baukondukteurs Heinrich Strack [Biogr. Handbuch S. 704f.] erbaut, diente nach der Aufgabe der Superintendantur am Kirchplatz und dem Umzug des Pastoren dorthin; als zweite Pastorei in Jever. Nach einem ein paar Jahre andauernden Leerstand erfolgte 1968 hier die Einrichtung eines zweiten Kindergartens. Der erste Einrichtung nach dem letzten Krieg, wurde drei Jahre zuvor an der Lindenallee seiner Bestimmung übergeben und erfreute sich stets einer wachsenden Beliebtheit – wovon ich mich selber in zartem Alter überzeugen konnte.

Drostenstraße 1 und 3 in einer Luftaufnahme aus dem Jahre 1993
Aufsehen erregte im Sommer 2015 die Nachricht von einer baldigen Schließung an der Steinstraße. Der Grund war eine, schon seit längeren nicht mehr ausreichende Qualität zur Erfüllung gesetzlicher Vorgaben. Ein anstehender Umbau bzw. eine Sanierung der in die Jahre gekommenen Einrichtung, hätten die Möglichkeiten der Gemeinde überstrapaziert. Ein Neubau an anderer Stelle (Hammerschmidtstraße) wurde geplant und ausgeführt. Zuletzt erhielt das Diakonische Werk hier keine Betriebserlaubnis mehr für den Kindergarten. Er wurde er am 5. Juli 2017 endgültig geschlossen.

Damit war auch das Schicksal des Hauses Drostenstraße 1, in eine andere Bahn geschwenkt worden. Zum Verkauf der beiden Anwesen im vergangenen Jahr gesellte sich noch einmal Hoffnung für den möglichen Erhalt des Ensembles. Mehrere Interessenten machte schon Pläne, ihm wieder neues Leben, einzuhauchen. Hoffnungsvoll wurde manche Offerte zum Oberkirchenrat nach Oldenburg gesandt.

Einer besaß die Fortüne und der Besitz ging in dessen Hände über. Eigentlich kann das prägnannte Haus an der Steinstraße, es steht unter Denkmalschutz, nur gewinnen durch den Verkauf. Scheinbar wird die ehemals stattliche Linde, jetzt arg zurückgeschnitten, weiter existieren dürfen. Der durch den Abbruch als Steinwüste verschrienene Gartengrund, ist inzwischen abgeräumt und soll wohl zum Teil bestehen bleiben [Dazu Jeversches Wochenblatt 18.04.2019].

Wie schon oben erwähnt, aus stadtgeschichtlicher Bedeutung war das uns in diesen Tagen entschwundene Haus nicht von besonderen Wert. Bis in die letzten Tage prangte ein kleines Messingschild an der einmal in einem warmen Gelb lackierten Haustür angebracht: "Henny Heiken" war darauf zu lesen.

Im Februar 1906 in Friedrichschleuse auf die Welt gekommen, machte die Tochter eines Steuermanns nach ihrem Schulbesuch eine Ausbildung zur Krankenschwester. Später mit dem Gastwirt Heike Heiken verehelicht kamen sie Ende der zwanziger Jahre nach Jever, um an der Mühlenstraße die Wirtschaft "Zur hohen Luft" zu pachten. Bald schon ging die Ehe "in die Brüche". Neben der Arbeit als Krankenschwester am Sophienstift in Jever war Henriette Heiken auch als Hebamme tätig. Mein junges Leben – legte sie persönlich in die erwartungsfrohen Arme meiner Mutter.

Anfänglich wohnte sie in dem, aus drei zusammengefügten Wohnungen bestehenden Haus Drostenstraße 4. Es ist als erstes Gebäude der beginnenden "Altstadtsanierung" im Januar 1970 abgebrochen worden. Schon 1967 war "Henny" Heiken in die gegenüberliegende, weiter zur Steinstraße gelegene Unterwohnung, Drostenstraße 1, verzogen. Für fünftausend Mark konnte sie die aus drei Zimmern bestehende Wohnung im April 1969 von der Witwe Tjardes käuflich erwerben.

Noch ohne eine Zentralheizung, musste mit einem Holzofen an kalten Tagen tüchtig eingeheizt werden. "Fröher warn de Lü noch genögsamer", meinte sie mir gegenüber einmal. Durch eine Neustrukturierung unseres Lageraumes, war viel Holz von ehemaligen Inventar abgängig. Wanderte nach und nach in ihren Ofen. Ihre anfänglich bärbeißig wirkende Art wich schnell einem gutmütigen Wesen. Fröhlich und für vieles aufgeschlossen war sie eigentlich mit sich selbst und der Welt zufrieden. Hochbetagt ist "Henny" Heiken, über neunzig Jahre zählend, friedlich entschlafen.

Bei einer Entrümpelung des Dachbodens zu Anfang der siebziger Jahre, fand sie einen schweren in seiner Mitte aufgewölbten Stein. Mittig stand die Datierung: 1813-15 und flankiert wurde sie beidseitig von je drei, eingemeißelten Tulpen. Ein Nachbar hat ihn später leider an einen Altwarenhändler veräußert. Wer weiß von welchem Haus er stammte.

Bis einige Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit lassen sich die Grund- und Hausbesitzer für die Drostenstraße 1 (bis zum Jahre 1914 die No. 122), durch die Forschungen von Karl Hoyer, zurückverfolgen. Noch weiter zurück kommen wir nur mit der archäologischen Erforschung unter der Erdoberfläche. Gerade in diesem Bereich der Stein- und Drostenstraße, der St. Annenstraße und dem Hopfenzaun lassen sich Bodenfunde schon aus dem 9. und 10. Jahrhundert nachweisen. Aus dieser Zeit stammt eine älteste Straßenpflasterung, gefunden in rund 1,8 Meter Tiefe unter der Steinstrasse. Siedlungsschichten können in diesem Bereich bis in vier Meter Tiefe vorgefunden werden. Der Archäologe Holger Winkler fand 1984 im Hopfenzaun in knapp zwei Meter Tiefe die Reste eines Hauses mit Stallanbau. Eine Feuerstelle auf versiegelten Lehm war zu lokalisieren. Gewichte zu einem Webstuhl wurden gefunden. In der Drostenstraße fanden sich Kugeltöpfe aus dem früheren Mittelalter, welche auf eine Töpferei hindeuten. Grabungen an mehreren Stellen in diesen Bereich der Stadt ergaben Hinweise auf einen ehemaligen Graben, der der vormaligen Kirchenburg zugerechnet wird. Mit ungefähr fünfeinhalb Meter Breite und fast zwei Meter Tiefe könnte er ein Wehrgraben gewesen sein.

Durch die bereits erwähnten Forschungen des Gymnasiallehrers Karl Hoyer können zurück bis ins ausgehenden 16. Jahrhundert Hausbewohner bzw. Eigentümer nachgewiesen werden. Ende des 17. Jahrhunderts ist für die Drostenstraße 1 die Familie des oben bereits genannten Ratsherren Eilert Taden über ein paar Jahrzehnte im Besitz des Anwesens. Danach scheint der seit 1719 tätige Rechenmeister Lehrhoff dort gewohnt zu haben. Nach seinem Tode 1742 erbt das Anwesen sein Sohn, der später einmal das Amt des Moorvogts ausübte. Ihm oblag die Aufsicht über den Torfstich im Glockenschlag, wenngleich schon unter Fräulein Maria der Torfstich im Amt Friedeburg unternommen wurde. Hinter der Südergast erstreckt sich das Moorland von Moorwarfen bis an den Rahrdum. Auch für eine gute Wegsamkeit war der Moorvogt zuständig.

Anno 1794 erscheint der Perückenmacher Rickleff Wiggers, welcher das Anwesen schon 1777 bewohnte, in den Steuerakten der Herrschaft nachfolgend als Hausbesitzer. Dessen Sohn machte zehn Jahre später, in einer Anonce, erschienen im Wochenblatt, wie folgt auf sich aufmerksam:

 Meinen hochgeschätzten Gönnern und Freunden mache ich hiemit ergebenst bekannt, dass ich mich als Gold= und Silberarbeiter, etabliret habe;  ich verfertige nicht allein kleine Arbeit in Gold und Silber, nach dem neuesten Geschmack, sondern auch große Arbeiten,  sowie selbige verlangt und bestellt werden: ersuche um geneigten und fleißigen Zuspruch, verspreche dagegen billige, reelle und prompte Behandlung; meine Wohnung ist in der Droßtenstraße bei meinem Vater im Hause. Jever. Carl Christian Wiggers.

Johann Ortgies und Sohn Alwin bringen um 1955 ihr Milchvieh in die Stadt.

Im Jahre 1826 verkauft Friederike Christine Wägen, eine geborene Wiggers, das Haus an den Pupillenschreiber* Axen. Fortan leben hier nacheinander, drei Generationen der dem Handwerkerstand angehörigen Familie bis ins Jahr 1900. Dann veräußert der Gastwirt Carl Theodor Axen im "Weißen Ross", sein Anwesen.

Zu späterer Zeit ist einmal für sieben Jahre der Bäckermeister Eden vom Kirchplatz hier Hausbesitzer. Als Bewohner erscheint in jenen Jahren ein Schuhmacher Wessels. Im Jahre 1914 wird das Haus (bis 1914 die Nummer 122 tragend) Eigentum des Gemüsehändlers Hilberts, welcher auch mit Geflügel Handel treibt. Zehn Jahre weiter übernimmt Hartmann Hartmanns die Warenbestände. Ihm folgt schon bald Wilhelm Weber, welcher eigentlich das Schlosserhandwerk erlernte. Aus jenen Jahren stammte auch das über dem Eingang zuletzt unbeschriftete Feld, welches in dem groben Verputz noch auszumachen war.

Eine weitere Besonderheit, zumindestens bis in unsere Gegenwart, waren drei geschmiedete eiserne Ringe, gut einen Meter hoch und in Abständen von jeweils zwei Metern, in dem Mauerwerk durch eingeschlagene Anker befestigt worden. Dabei aber voll beweglich dienten sie zum Anleinen von Milchvieh oder Pferden. Gab es doch in der jeverschen Altstadt noch bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Viehhaltung. Wenn Nachbar Johann Ortgies mit seinen Söhnen aus der Steinstrasse 5, zum Abend die Tiere von den Weiden, in die Stadt holte, wurden sie kurzzeitig angeleint, um dann Stück um Stück einzeln in die gegenüber liegende Stallung an der Drostenstrasse, geführt zu werden. Auch an dieser Aussenwand ist zumindestens ein eiserner Ring (links auf dem Bild, vom Hinterteil der Kuh) auszumachen. Leider war einer der drei Ringe von Drostenstrasse 1 schon zuvor einmal "abhanden" gekommen. Ob die beiden anderen während des Abbruchs geborgen wurden?

Mit dem Bezug der käuflich erworbenen Oberwohnung an der Drostenstraße 1, nach dem letzten Krieg, kamen der Maschinenbauer Heino Hinrichs und seine Ehefrau Martha in das Haus. Deren Erben veräußerten dann gemeinsam mit den Erben von "Henny" Heiken das Anwesen an die Kirchengemeinde.

Nicht unerwähnt bleiben soll das noch überraschenderweise mit abgebrochene Nachbarhaus der Drostenstraße 3 (früher Hausnummer 123). Überraschend deshalb, weil es dem Vernehmen nach, einen anderen Besitzer gehören sollte. Erst im Jahre 1893  wurde dieses von dem Schneidermeister Ibo Janssen Gerdes erbaut, nachdem dessen Ehefrau das vorherige, ältere, schon 1883 käuflich erworben hatte. Am 31. Oktober des gleichen Jahres gab er im Jeverschen Wochenblatt bekannt, seine Werkstatt befände sich künftig "gegenüber dem Gymnasium." Wer weiss noch, dass unser Mariengymnasium einst in der Drostenstraße beheimatet war?    

Wilke Krüger, im April 2019

 

*) Der Pupillenschreiber hatte dafür Sorge zu tragen, einen geeigneten Vormund für minderjährige, elternlose Kinder zu finden. Auch für Erwachsene einen Vormund zu bestimmen, wenn sie für "unmündig" befunden, daher unter Kuratell gestellt wurden.

Quellen:
Karl Hoyer, Jeversche Häuserlisten, Bibliothek des Jeverländischen Altertums- u. Heimatvereins e. V.
Anzeige aus dem Wochenblatt vom 3.11.1804.
Holger Winkler, Die archäologischen Stadtkernuntersuchungen in Jever, in: Ein Blick zurück, Jever 1986, S. 9-19