Bahnwärterhaus IX

Ein Beitrag aus dem HiKa 1972

Wenn man heute aus der Straße Südergast kommend den hohen Damm zum Bahnübergang 'erklimmt', liegt unmittelbar vor den Gleisen linker Hand eine kleine Grünfläche. Sie hat etwa die Höhe des Bahndammes und wird von einem steilwandigen Graben von der anliegenden Wohnbebauung abgegrenzt. Neuerdings ist ein Teil dieser Fläche durch nicht schön aussehende Poller abgegrenzt. Grund dieser Maßnahme ist, dass das bahnrechtlich vorgeschriebene Sichtdreieck für die Gleise überquerende Menschen eingehalten wird. Oft stehen hier sonst Fahrzeuge, der letzter Halt für den Spaziergang im Moorland.
NWZ_1983-11-19_Bahnwärterhaus-Bredendiek
NWZ vom 19.11.1983

Diese kleine Fläche hat eine besondere Geschichte. Hier stand ein Bahnwärterhaus. Die unten abgebildete topographische Karte von 1955 zeigt dieses zusammen mit den Buchstaben B.W. Die Eisenbahn wurde 1871 gebaut. Danach entstand dieses Haus, ein Datum für den Abriss habe ich bisher nicht in Erfahrung bringen können. Jedenfalls war der Abriss keine Zeitungsmeldung wert. Aber Dank eines Bildes von Frau G. Rieken aus dem Sommer 1967 lässt sich das genauer eingrenzen. Sie erinnert sich, dass noch im gleichen Jahr das Haus verschwunden war.

Die angrenzenden nördlichen Ländereien wurden ab den 1970er Jahren bebaut. Ein Bebauungsplan Nr. 39 für den Bereich zwischen der Straße Südergast und den Gleisen wurde 1978 aufgestellt. Da war der Wohnblock mit den Garagen offensichtlich schon da. Als neue Straße kam der Saterländer Weg dazu. Für die westliche Seite zum heutigen Stadtlander Weg (wer hat eigentlich entschieden, das diese so ähnlichen Namen direkt nebeneinander liegen? Ich kann es mir bis heute nicht merken) entstand der Bebauungsplan Nr. 05. Zu der Zeit sind auch bereits einige Häuser vorhanden. Genaueres wäre in den Hausakten im Bauamt der Stadt zu finden.

Das Baugebiet Krummhörner Straße und Brookmerlandring entstand 1983 mit dem Bebauungsplan Nr. 50. Damit war beidseitig des Bahnüberganges zum Moorlandweg die Bebauung bis an den Damm der Eisenbahn herangekommen.

Hein Bredendiek hat im 'Historienkalender auf das Jahr 1972' an dieses Bahnwärterhaus erinnert. Er schreibt:

Der Dramatiker Carl Zuckmeyer schreibt einmal von den Stätten der Kindheit, die verschwunden sind und die nicht mehr die gleichen sind, auch wenn sie verschont blieben. Sie sind vom Wandel berührt, wie wir selbst.

Warum soll man nicht auch einmal ein Bahnwärterhaus suchen, das einem in jungen Jahren ein wahres Wolkenhaus gewesen ist! Es steht nicht mehr, das Bahnwärterhaus IX an dem Schienenüberweg, der von der Südergast ins wiesenbunte Moorland führt.

Hier hauste vor knapp 60 Jahren die Bahnwärterfamilie Meiners. Bernd M. saß mit mir in den Grundschulklassen und hatte den gleichen Schulweg wie ich. Eine geheimnisvolle Macht zog mich an manchen Nachmittagen in das Bahnwärterhaus, wo Bernd und ich in dem zweifenstrigen Moorlandszimmer mit Zinnsoldaten spielten. Zu einer bestimmten Zeit begannen die Zinnsoldaten zu zittern und leicht zu schwanken. Dann klirrten im Eckschrank die Porzellantassen, und dann donnerte ein Zug nahe an den Fenstern vorbei. Rauch umwirbelte das Haus. Wir wurden auf dem Sofa geschüttelt und hielten die Hände über die purzelnden Soldaten. Vorbei rollte der lange Werftzug. Die Zinnsoldaten wurden neu aufgestellt: Kriegsjahr 1915.

Wir spielten in dem kleinen Garten unter dem mächtigen Eschenbaum, warfen Kiesel in den dunklen Brunnen, legten Kupferpfennige auf die Schienen und standen, mit Knüppeln präsentierend, stramm, wenn wieder ein Dampfzug vorüberrollte und uns in seine Rauchwolken einhüllte. Plattgewälzte Kupferstücke wurden Orden, die man sich an einer Kette um den Hals legte.

Nach der Familie Meiners bezog ein anderer Bahnwärter das Haus unter dem Eschenbaum. Sein sinn scheint nach höheren Dingen gestanden zu haben. Er verwandelte den Garten in einen Zaubergarten, in dem auf einem von Muscheln belegten Hügel ein rotweiß angestrichener Blechleuchtturm aufgestellt wurde. Am Abend saß der Bahnwärter auf einer Bank vor dem Leuchtturm. Im Turmkopf leuchtete eine rote Öllampe. Der Mann saß da, rauchte die Pfeife und träumte sich in die Rolle eines Leuchtturmwärters hinein.

Immer wieder, von Zeit zu Zeit in die Heimat zurückgekehrt, schien mir das alte Bahnwärterhaus IX vom Wandel berührt zu sein. Der Turmträumer wurde von einem Viehhalter abgelöst, Ziegen, an langen Tauen angepflockt, meckerten hinter dem Bahndamm. Ein kleiner Kläffer bellte jeden an. der den Bahndamm auf dem Weg ins Moorland überschritt. Aus dem Stallfenster aber glotzte an Wintertagen eine Kuh den Spaziergänger an. Ich trat manchmal an das Fenster heran, sah der Kuh im Winterquartier in die Augen und sann dem homerischen Ausdruck von der kuhäugigen - glaukopsis - Athene nach.
Diese kleine Stätte der Erinnerung mußte fallen und einer besseren bahnamtlichen Übersicht Platz schaffen. Geht man über den Bahndamm an der alten Stätte vorbei, verharrt man dort auf den Schienen, schaut sich um und sucht etwas, was längst ins Meer der Erinnerung sank.


Die Bilder sind über Rechtsklick 'Grafik anzeigen' größer zu betrachten.

Quellen:
Der Historienkalender auf das Jahr 1972, S. 36. Verlag Mettcker, Jever.
Nordwest-Zeitung, Jeverlandbote vom 19.11.1983
Repro der Bilder: V. Bleck.

V. Bleck, Juni 2020

TK25-1955

Topographische Karte von 1955, Maßstab 1:25.000:
Ausschnitt mit dem nördlichen Moorland und der Südergast von Jever.
B.W. = Bahnwärter

Bahnwärterhaus Südergast

Das Gartenland beidseitig des Weges Südergast um 1960. Im Hintergrund das Bahnwärterhaus am Übergang zum Moorlandsweg. Südlich der Anton-Güntherstraße war bis zu den Gleisen der Eisenbahn freie Landschaft mit Gärten. © W. Krüger

Moorlandsweg-Bahnübergang Mai 1915

Das Bahnwärterhaus Südergast, vom Moorlandsweg aus gesehen im Mai 1915.
In der Stadtkulisse links der katholische Kirchturm, die beiden anderen Türme sollten bekannt sein (dazwischen ist ein Telegrafenmast). © W. Krüger

Rieken 1967

Sommer 1967: Gerda Ahrens mit Freundin auf dem Weg ins Moorland, gerade beim Bahnübergang. Das Bahnwärterhaus - jetzt mit Anbau - ist offensichtlich frisch renoviert. © G. Rieken